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Nachgefragt und Lesebericht: Pierre Lemaitre, Wir sehen uns dort oben

Aufgezeichnet von Heiner Wittmann
16.10.2014

Pierre Lemaitre: »Wir sehen uns dort oben«: In den allerletzten Kriegstagen werden Albert und Édouard noch ins feindliche Feuer geschickt. Ihr Vorgesetzter Pradelle will unbedingt noch diesen kleinen Frontabschnitt 113 den Deutschen abringen. In letzter Sekunde rettet Édouard Albert vor dem sicheren Tod. Albert erfüllt ihm seinen größten Wunsch und verschafft seinem schwer verletzten Freund eine falsche Identität. Sie kehren nach Paris zurück und geraten durch Zufall wieder in die Umgebung von Pradelle. Wie überleben Kriegsveteranen in einer Gesellschaft, die sich scheut mit ihnen umzugehen? „Im Krieg war er unendlich einsam gewesen, doch das war gar nichts im Vergleich zu diesen Friedenszeiten, die immer mehr einer Höllenfahrt glichen,“ (S. 467) schreibt Lemaitre. Albert und Édouard, immer in höchster Geldnot, entwickeln zusammen einen gewagten Plan, der (zunächst) gelingt. Ihr Konto füllt sich wieder recht ansehnlich.

Nachgefragt und Lesebericht: Pierre Lemaitre, Wir sehen uns dort oben

Nachgefrgt: Pierre Lemaitre, Wir sehen uns dort oben

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Der Krieg mit seinen Toten, den Grausamkeiten, dem ständigen Geschützlärm, der dauernden Angst, im nächsten Moment durch ein Geschoß, ein Schrapnell oder ein Kugel verwundet oder getötet zu werden, stumpft ab. Viele verlieren jeden Moralbegriff, sind nur noch auf den eigenen Schutz bedacht, stumpfen so ab, dass der Krieg ihr Leben wird: „Die Vorstellung der Krieg könne zu Ende gehen, war tödlich für Leutnant Pradelle.“ (S. 13) Eine Leben ohne Krieg würde für ihn Macht- und Ansehensverlust bedeuten. Er geht buchstäblich über Leichen und missachtet die Rechte derjenigen, die ihm anvertraut sind. Der Befehl an seine Soldaten vorzurücken, kann ihr Todesurteil sein.

Natürlich stellt sich Albert Maillard vor, der Krieg wäre schnell vorbei. Im Herbst sind wir zur Ernte wieder daheim, dachten sich auch Tausende seiner Kameraden. Es sollte ganz anders kommen. Jetzt am Ende des Krieges hoffte jeder nur noch, seine Haut retten, und nicht als „Letzter zu sterben“ (S. 13.) Als er vorrücken muss, findet er die beiden Leichen von Louis Thérieux und Gaston Grisonnier, die als Spähtrupp von Pradelle gegen die deutschen Linien losgeschickt worden waren. Und Maillard macht eine furchtbare Entdeckung. Thérieux und Grisonnier haben Wunden im Rücken. Wer hat sie von hinten erschossen? Ein Verdacht keimt in ihm auf, als Leutnant Pradelle neben ihm auftaucht. Ein Stoß und Maillard fällt in einen Granattrichter, er wird nach einer weiteren Granate verschüttet. Es ist zu Ende, er glaubt sich dem Tode nahe. Wieder ein Granate, die seinem Freund Édouard den Unterkiefer wegreißt, ihm doch noch soviel Kraft lässt, ein Bajonett zu erkennen, an dem verschüttet Maillard hängt, er schiebt Erde beiseite und befreit Albert, rettet ihm das Leben. Dramatische Szenen, näher am Tod als am Leben.

Bei Klett-Cotta sind die Kriegstagebücher von Ernst Jünger zum ersten Mal erschienen. Helmuth Kiesel hat den Band mit präzisen Anmerkungen versehen und herausgegeben.

Bei Ausbruch des Krieges meldet sich der 19-jährige Ernst Jünger als Kriegsfreiwilliger und wird Soldat des Hannoverschen Füsilier oder Infanterie-Regiment Nr. 73. Er wird die großen Schlachten in Flandern, an der Somme und bei Cambrai mitmachen und beginnt sogleich ein Tagebuch. Am 4. Januar 1915 schreibt er: „Ich bin sehr neugierig, wie sich ein Shrapnellbeschießung ausmacht. Im allgemeinen ist mir der Krieg schrecklicher vorgekommen als er ist.“

> Ernst Jünger
> Kriegstagebuch 1914-1918

Das Leiden auf der Krankenstation an der Front ist ungeheuerlich. Albert beschafft seinem Freund Morphium und pflegt ihn. Seien Schmerzen sind unermesslich. Die Erinnerung an Leutnant Pradelle lässt ihm keine Ruhe. Als Albert zu General Morieux gerufen wird, steht Leutnant Pradelle hinter dem General. ALbert soll seine Pflichten verletzt haben, er soll sich ihnen entzogen haben, sein Vorgesetzter macht keine Einwände, scheint ihn ans Messer liefern zu wollen. Das Wort Militärgericht fällt, und Maillard kann sich aus dieser Situation so gerade eben noch befreien. Er war dem Tod so nahe wie im Granattrichter.

Er verschafft Édouard eine neue Identität und es gelingt ihm, seinen Freund endlich zu verlegen. Es folgt die Demobilisierung. Pradelle kümmert sich um die Bestattung der Soldaten. Nicht ganz selbstlos. Er tut so. als würde er Ordnung schaffen. Tut dies aber eher nur zugunsten seiner persönlichen Finanzen: „Das Geschäft des Jahrhunderts. Der Wirtschaft brachte ein Krieg viel Vorteile ein, sogar noch hinterher.“ Pradelle kann sich diesen Verführungen nicht entziehen. Auch Albert lässt die Regeln des geordneten sozialen Zusammenlebens unbeachtet, wenn es darum, Morphium für seinen Freund zu beschaffen.

Pradelle bleibt auf seltsame Weise im Umfeld der beiden Freunde. Zufall, oder Konstruktion, um die Geschichte voranzutreiben. Jedenfalls weiß Albert, dass Pradelle in der Nähe ist und tut alles, um ihm nicht zu begegnen. Über die näheren Umstände, wie Pradelle auch nach Kriegsende im Leben von Maillard blieb, berichten wir hier nicht; nicht nur Romane erfinden Zufälle, auch im Leben kommen sie vor und sind dort manchmal genauso spannend, deshalb wollen wir diese Episode hier nicht im Einzelnen erklären. Erstaunlich ist es, wie und sein kieferloser Freund sich in ihr Nachkriegsleben einrichten. Sogar recht erfolgreich, wenn auch mit Betrug und Hinterlist. Sie nutzen die Konjunktur der Zeit und gründen ein Unternehmen, das nur in seinem Katalog und durch sein Bankkonto existiert. Albert kann den Granattrichter und Leutnant Pradelle nicht vergessen. Und zwischen beiden besteht ein Zusammenhang, der ihm beinahe das leben gekostet hätte.

Mittlerweile steckt Pradelle in echte Schwierigkeiten, weil der Beamter Merlin seine Bestattungsaktivitäten kontrolliert und sofort Ungereimtheiten entdeckt. Zu kurze Särge, Leichen unter falschen Namen in den falschen Särgen. Es ist doch nicht so einfach, schnell zu viel Geld zu kommen.

Edouard und Albert haben zunächst mehr Glück. Ihr Unternehmen hat einen glänzenden Start. Édouard war es gelungen die Skepsis von Albert zu besiegen: „Der ewige Kampf zwischen Künstler und Bürger erlebte eine Neuauflage.“ (S. 279) Lug und Betrug; Moral haben sie aus dem Krieg nicht mitgebracht. Albert nutzt seine Anstellung in der Bank bei Péricourt, schiebt Geld hin und her und nebenbei kommt auch einiges auf seinem Konto.an. (vgl. S. 326)

Auch im Roman gibt es wie im Leben noch eine Art Gerechtigkeit. Die unmoralischen Missetaten fliegen auf; manchmal dauert das ein bisschen länger, weil alle irgendwie verstrickt sind.

Wie macht Lemaitre das, um diesem Roman seine unglaubliche Spannung zu verleihen? Beide sind Freunde sind eigentlich tod,; sie entrinnen diesem Schicksal durch gegenseitige Hilfe, das ist fast noch ein Rest von Moral, die ihnen geblieben ist. Aber dann müssen sie sich nach ihrer Rückkehr in einer eigentlich feindlichen Umgebung zurechtfinden, die ihnen kein bisschen hilft. Und sie setzen sich durch Hartnäckigkeit gegen alle Widrigkeiten durch. Sie passen ihre Geschäft dem Zug der Zeit an und haben zunächst mit ihrem Betrug Erfolg. Die Tage im Frontlazarett sind entsetzlich, Édouard schreit, alles stinkt um ihn herum, Albert hält zu seinem Freund und rettet ihn. Echt spannend, wie er sich gegen immer neue unerwartete Schwierigkeiten zur Wehr setzten zu lernt. Pradelle steht dabei für die ständige Erinnerung an die Todesangst, an das Trommeln der Geschütze, an die vielen Toten, die Hoffnungslosigkeit und das Grauen des Krieges.

Leseberichte im Gegensatz zu Rezensionen haben hier auf dem Blog den unschätzbaren Vorteil, dass sie a. ganz persönlicher, blogmäßiger Natur sein dürfen, b. das unmittelbare Leseerlebnis wiedergeben und diskutieren dürfen, und c. eben nicht auf eine strenge Beurteilung des Buches hinauslaufen müssen: Was wollte der Autor? Wie hat er es gemacht? Was hat der Autor gesagt? Wie verläuft der Spannungsbogen? Zu welchem Ergebnis kommt der Autor? Wie ist das Ergebnis zu bewerten? So ungefähr sähe eine Rezension aus. Da wir die Bücher aus dem eigenen Verlag nicht rezensieren, folgt hier also ein Lesebericht mit allen persönlichen Merkmalen. Wir beschränken uns hier mal auf das Wie. Wir werden also die Verwicklungen keinesfalls en détail erzählen, um Ihnen die Lesespannung nicht zu nehmen, dürfen aber dennoch hier versichern, dass, wenn Sie erst einmal angefangen haben, es Ihnen genauso wie den Protagonisten dieses Romans gehen wird, sie sind schon in die Geschichte hineingezogen, sie sind mit dabei, leiden ein wenig mit, schütteln den Kopf über manche Dummheit, staunen, wie man einer solchen Hölle entkommen kann und wundern sich über den Einfallsreichtum derer, die nach dem Krieg überleben möchten.

Heiner Wittmann

Wir sehen uns dort oben

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