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Lesebericht und Interview mit Bernd Stegemann, Die Öffentlichkeit und ihre Feinde

Aufgezeichnet von Heiner Wittmann
17.3.2021
In allen Disziplinen von der Soziologie über die Literatur und Politikwissenschaft bis zur Stadtarchitektur und -Planung spielt die Öffentlichkeit eine Rolle und wird von ihnen unter verschiedenen Aspekten thematisiert und untersucht. Im Doktorandenkolloquium 1985 von Prof. Hoeges in der Universität Bonn haben wir Richard Sennetts Studie »Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität«, Frankfurt/M. 1983, mit dem ungleich so viel besseren englischen Titel »The Fall of Public Man« gelesen. Wir zitieren hier die Studie von Sennett, weil dadurch der Ansatz der Untersuchung von Bernd Stegemann, »Die Öffentlichkeit« und ihre Feinde, die gerade bei Klett-Cotta erschienen ist, noch augenfälliger wird. Beklagte Sennett völlig zu Recht die „Ideologie der Intimität“, so analysiert Stegemann die heutigen Mechanismen der Zerstörung der Öffentlichkeit mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit anhand vieler Beispiele…. Stegemann bestätigt die pessimistischen Befunde und düsteren Prognosen Sennetts. Während Sennett eine historische Perspektive wählte, konzentriert sich Stegemann auf die Gegenwart und ermittelt viele Angriffe von mehreren Seiten auf die Öffentlichkeit. ….
Lesebericht und Interview mit Bernd Stegemann, Die Öffentlichkeit und ihre Feinde

Interview mit bernd Stegemann

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Die Frage Wie steht es um die Öffentlichkeit im Anthropozän? beantwortet er illusionslos und schonungslos negativ. In einem Zeitalter, wo der Mensch durch seine Eingriffe in die Natur die ausschließliche Herrschaft über die Welt und ihr Klima durch alle Arten menschlicher Eingriffe übernommen hat, gelingt es ihm unter den aktuellen neoliberalen Bedingungen nicht, diese Eingriffe zum Wohl der Erde zu steuern. Das Wissen hätte er, aber deren Nutzung scheitert, weil er die Mechanismen dazu nicht bedienen kann, eben weil die Steuerung durch die Öffentlichkeit misslingt. Das ist etwas zu verkürzt und bedarf einer Erläuterung, die uns der Aufbau seines Buches anbietet: Der 1. Teil enthält im Kap. 1 eine Definition der Öffentlichkeit (Stichwort: „Systemtheorie“ S. 16 ff.) und ihrer Widersprüche. Der 2. Teil S.: 63-198 erläutert die Die Folgen des Neoliberalismus, S. 88 ff., und nennt die Flexibilität (erinnern wir uns an den englischen Titel „The Corrosion of Character“ von Richard Sennetts, „Der flexible Mensch“). Die aktuellen Entwicklungen der letzten Jahre, Stichworte wie „Cancel Culture“, die zur Zeit in England (am 17. Februar 2021, berichtet Jochen Buchsteiner in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift > Wer gecancelt wird, erhält Entschädigung von einem Gesetzesvorhaben der britischen Regierung gegen „Cancel Culture“), in Frankreich und auch bei uns (> Netzwerk Wissenschaftsfreiheit) als Bedrohungen der freien Meinungsäußerung verstanden werden. Die Identitätspolitik („… die hässliche Schwester des Populismus“, S. 229).  S: 122 – bes. 132. ff. :  „…diese Identitätskonstruktionen dienen nicht nur der Emanzipation von Diskriminierung, sondern sie werden auch immer noch für die Erfindung neuer Abwertungen genutzt.“ S. 132,  wie „Wokeness“, S.132, oder „Cancel Culture“, S. 161 ff., 173.,  die sozialen Medien und die Intimkommunikation, S. 182 ff. wie „Sprachkorrekturen  moralische Reinheit“ gehören alle zusammen und  „verstärken sich gegenseitig und führen zu dem Waffenarsenal, mit dem Kommunikation unter Feinden geführt wird.“ (S. 197) Und im dritten Teil zeigt Bernd Stegemann, anhand der Diskussion um die Klimadebatte, was alles in der Öffentlichkeit mit welchen Folgen falsch läuft.

 Bernd Stegemann, geboren 1967, studierte Philosophie und Germanistik an der FU Berlin und der Universität Hamburg sowie Schauspieltheater-Regie an der Hamburger Theaterakademie. Seit 1999 arbeitet er als Dramaturg/Chefdramaturg am Frankfurter TAT, am Deutschen Theater Berlin und an der Schaubühne am Lehniner Platz. Seit 2017 ist er Dramaturg am Berliner Ensemble und seit 2005 Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«.

Die Öffentlichkeit als soziales Gebilde ist in Gefahr: „Zum einen wächst das Misstrauen gegenüber den Methoden einer komplexen Gesellschaft. Die politischen Rufe nach einfachen Lösungen, die schnelle und radikale Änderungen versprechen, werden immer lauter.“ (S. 22)  Die offene Gesellschaft, so Stegemann sei in Gefahr, da sie diese Offenheit für Themen und Widersprüche nicht aufrechterhalten kann, wenn gerade diese Mechanismen, die die offene Diskussion gewährleisten sollen, angegriffen werden: vgl. S. 34. Die Folge ist die Unterdrückung von Themen oder deren einseitige Besetzung, so dass eine freie Meinungsbildung nicht mehr möglich ist : vgl. S. 39 f. Stegemann bietet in seinen Analysen verschiedene Erklärungen für den Niedergang der Öffentlichkeit an. Eine davon ist die Beobachtung, wie in Gesellschaften, „die die Widersprüche aus der Öffentlichkeit verbannen wollen, die ihre Kommunikation einschränken und die Ergebnisse vorwegnehmen, … sich selbst der Qualität einer offenen Öffentlichkeit“ berauben, S.65. Das zielt auf den Niedergang der Deliberation: S. 67. Und in diesem Zusammenhang erinnert Stegemann daran, dass mit dem Internet die Grenzen zwischen privat und öffentlich verschwimmen (vgl. S. 67) mit unheilvollen Folgen für die Öffentlichkeit. Gerade bei den sozialen Medien kann man beobachten, wie einzelne Stimmen sich durch die Mechanismen der „sozialen“ Medien gewollt oder ungewollt zu Meinungsführern aufschwingen: Das kommt daher, weil die „sozialen“ Netzwerke ihre eigenen Regeln im Umgang miteinander etabliert haben, die nicht unbedingt mit den Funktionsweisen der Öffentlichkeit übereinstimmen. (1) Man kann Liken, Folgen, retweeten o. ä.,  und kommentieren, aber es gibt keinen Button, um Ablehnung auszudrücken. – Stattdessen wird geblockt, was wiederum eine Art soziale Verurteilung bedeutet, die aber von einer Einzelperson ohne erkennbare Gründe ausgesprochen, und so eigentlich kaum mehr als für eine Einzelmeinung steht. – In der Kommunikation miteinander gibt es vorgeschriebene oder angebotene Reaktionsformen, in die die Nutzer sich fügen müssen. Alles läuft auf Aufmerksamkeit hinaus, die Währung mit der jeder bezahlt wenn er mit dem Smartphone in der Hand und dem Kopf auf das Display gesenkt durch die Straßen läuft. Und dann werden Einzelstimmen zu Meinungsbildern aufgepeppt. Dabei wird das Redaktionsprinzip ausgehebelt, weil zuerst alle Meinungsinhalte als gleichwichtig angezeigt werden und man kann beinahe ausrechnen, ab wann andere einer Nachricht plötzlich einen großen Raum geben. Ein Kekshersteller muss seine 60 Jahre alte Afrika-Packung umbenennen, weil eine einzelne Stimme einen Shitstorm auslöste. (vgl. S. 189)
 

„Biopolitik und Identitätspolitik“ (S. 121 ff.) Die Biopolitik rückt gerade während der Corona-Pandemie ganz besonders in den Vordergrund mit den Einschränkungen der Grundrechte zum Schutz aller. Die Identitätspolitik nimmt die Identitäten der Menschen in den Blick und geht den Weg über die „unfragliche Gruppenzugehörigkeit“,  daraus entsteht (eine ohnehin vorhandenes) Machtgefühl, das andere Gruppen abwertet – die Nähe zum Nationalismus („Le nationalisme, c’est la guerre,“ François Mitterrnd) ist unübersehbar: vgl. S. 127. Das Beharren auf Identitäten, wie die der „alten weißen Männer“ ist erfolgreich und schafft neue Diskriminierungen ( vgl.S. 132 ff.). In diesem Zusammenhang nennt Stegemann auch das Phänomen des „Wokeness“, das nach unreinen Verhaltensweisen sucht mit dem Ziel der öffentlichen Vernichtung. Dazu gehören alle Formen der Cancel Culture vgl. S. 154 ff.). Die Folgen sind gravierend: „… der universale Anspruch auf Meinungsfreiheit ist inzwischen zum Hauptfeind der Identitätspolitik erklärt worden.“ (vgl. S. 165 f)

Die Folgen für eine funktionierende Öffentlichkeit sind gravierend und Stegemann erläutert sie mit den Sozialen Medien, die zu einer „Gefühlsexpression“ aufrufen, die es früher – als noch der Umweg über Redaktionen und öffentliche Sender genommen werden musste, nicht gegeben hat – und das erklärt Stegemann anhand des Romans Madame Bovary von Gustave Flaubertt: „Die Gefühlsdarstellung taugt in der Kunst zum intellektuell anregenden Erlebnis, wird in der Unterhaltungskultur zum Gegenstand des Massenkonsums und gerät in der spätmodernen Öffentlichkeit zum expressiven Merkmal jedes Einzelnen.“ (S. 183) Am Ende zähle nur das Ich und die Öffentlichkeit werde nur auf eine Gefühl reduziert, folgert Stegemann: „Dabei handelt es sich um eine der raffiniertesten Lügen unserer Zeit…“ (S. 184) Der Einzelfall verberge „die konkrete Gestalt des Widerspruchs“. Die Filme in den Nachrichten sind oft genauso gebaut: Oft wird ein Einzelfall gezeigt dann die Story und am Ende kommt der Redakteur wieder auf den Einzelfall zurück. Auf dieses Weise soll der Wahrheitsanspruch unterstrichen werden, und genau das Gegenteil ist der Fall.

Im dritten Teil werden die Folgen der Zerstörung der Öffentlichkeit an der Entwicklung der Klimadebatte gezeigt. Stegemann kommt wieder auf das Anthropozän zurück und erinnert daran, dass die Menschen zwar die wichtigste Instanz für die Ökologie auf der Erde geworden sind, dass ihnen aber die Mechanismen zu ihrer Steuerung entglitten sind. Die Gründe seien im Unvermögen der Menschen, sich und ihre Umwelt zu beschreiben zu suchen. (vgl. S. 219) Greta Thunberg erhält Lob von Stegemann für ihre kühle Art, ihre Botschaften zu vermitteln, gleichwohl erscheint der von ihr ausgelöste Protest wie der „neue Ausdruck eines alten Klassenverhältnis“ (S. 236).

Die Öffentlichkeit und ihre Feinde

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Beteiligte Personen

Bernd Stegemann

Bernd Stegemann, geboren 1967, studierte Philosophie und Germanistik an der FU Berlin und der Universität Hamburg sowie Schauspieltheater...

Bernd Stegemann, geboren 1967, studierte Philosophie und Germanistik an der FU Berlin und der Universität Hamburg sowie Schauspieltheater-Regie an der Hamburger Theaterakademie. Seit 1999 arbeitet er als Dramaturg/Chefdramaturg an verschiedenen Theatern, zuletzt am Berliner Ensemble. Seit 2005 ist er Professor für Dramaturgie und Kultursoziologie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«.

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