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Nachgefragt: Ariadne von Schirach, Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden

Nachgefragt. Aufgezeichnet von Heiner Wittmann
29.3.2019

Das Buch von Ariadne von Schirach »Die psychotische Gesellschaft« mit dem Untertitel „Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden“ ist eine psychologische und auch politische Ideengeschichte. In der Einleitung definiert sie die Psychose als einen Ausnahmezustand mit Verlust des Kontaktes zur Realität. Psychotische Zustände sind aber auch immer Übergänge zu neuen Identitäten oder sie verfangen sich in einer unheilbaren Pathologie: S. 17. Sie sieht solche Entwicklungen auch in einem Zusammenhang mit unserem Verhältnis zu Europa und folglich mit der Politik. In diesem Sinne nennt sie die die geheimnisvolle Ganzheit des Lebens, vgl. ib., und die Dauer als Wandel. Der Begriff des „Hauses“ versteht sie als „Lebensbezüge einer bestimmten Kultur“ (S. 18). Im Kapitel Unordnung der Dinge geht es um die so folgenreiche „Ununterscheidbarkeit von Arbeit und Freizeit, Privatheit und Öffentlichkeit“ (S. 20), die dazu führt, dass in der Folge des unübersehbaren Medienangebotes besonders durch die Insinuationen seitens der sozialen Netzwerke alle Werte verschwimmen. Ihr Buch ist auch der Versuch, in diesem medialen Chaos die Welt neu zu erzählen, dem das letzte Kapitel gewidmet ist.

Nachgefragt: Ariadne von Schirach, Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden

Nachgefragt, Ariadne von Schirach, Die psychotische Gesellschaft

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Globalisierung und Digitalisierung führen zur Verwischung von Sein und Nichts, (vgl. S. 34) mit katastrophalen Folgen: „Unser Heimatverlust ist innerlich,“ (S. 26) und des Verlusts der Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion. Jedes Kapitel berichtet von einem Fall und illustriert den Kerngedanken des jeweiligen Kapitels. Bei Emma Stern geht es um den Verlust des Kontakts zum  Leben, den von Schirach im Folgenden mit einer kurzgefassten Ideengeschichte von Platon über Aristoteles, Descartes, Søren Kierkegaard (1813-1855) bis zu Claude Lévi-Strauss erläutert. Kierkegaard widmet sie zu Recht eine längere Passage (S. 53-63), in die Sartres Idee von der Angst vor der Freiheit, die er in L’être et le néant (1943) auch gut gepasst hätte. Aber von Schirachs Anmerkungen zu Kierkegaard sollten Sie dazu verführen, ihn selber wieder zu lesen. Im nächsten Kapitel kommen Martin Heidegger, Karl Jaspers mit seiner Allgemeinen Psychopathologie und Eugen Bleuler zu Wort.

Das zentrale Kapitel Unordnung der Dinge zeichnet ein düsteres Bild unserer Gesellschaft, der die Realität entgleitet (vgl. S. 115). Ihre Gewährsleute sind Jean Baudrillard, Paul Virilio und Jean-François Lyotard. Und die berechtigte Zielscheibe ihrer Kritik sind die „sozialen Medien“ > Web 2.0 und soziale Netzwerke – 23. November 2009: Sie drückt das sehr passend aus: „das individuelle Leben verwandelt sich im Zeitalter der Simulation in einen falschen Film“ (S. 119 und vgl. dazu S. 158 f.) und resümiert so treffend den Kern ihres Anliegens: die Folge: „das kollektive Verständnis von Objektivität und Wahrheit “ geht den Bach hinunter, das kann man zur Zeit wie in einem Lehrstück beobachten, wenn man den Einfluss der sogenannten Sozialen Medien auf die Bewegung der Gelben Westen in Paris beobachtet. Möglicherweise haben sie bei Beginn der Bewegung  eine zahlenmäßige Größe ihrer Sympathisanten suggeriert, die überhaupt nicht der Wirklichkeit entsprach, woraus sich schließlich auch eine gewisse Verantwortung für die Radikalisierung der Bewegung resultierte. Aber das müsste eingehender untersucht werden: >Die „Gelben Westen“ und der schwarze Block – 19. März 2019.

Unsere Gesellschaften bieten ein erhebliches Gefährdungspotential, so könnte man von Schirach verstehen. Sie spricht von „kollektiven Ohnmachts-Gefühlen einer psychotischen Gesellschaft“ (S. 136). S. 157 f.: …zugleich ist diese ständige Nabelbeschau ein wenig kannibalistisch, eine fortlaufende Selbst- und Weltverwertung, bei der immer die Gefahr besteht, dass Sinn und Sinnlichkeit vollkommen auf der Strecke bleiben.“ S. 159  Das ist keine „Gefahr“, so ist das mit den sozialen Medien, kein bisschen sozial sind sie, eine falsche Wirklichkeit bauen sie auf:

Zur Erinnerung:


„Richard Sennett hat 1977, ohne dass es soziale Netzwerke gab, schon über sie geschrieben: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (S. Fischer, Frankfurt/M. 1983). Der Originaltitel The Fall of Public Man ist viel treffender für seine Thesen. In Anlehnung an sie kann man sagen, dass die sozialen Netzwerke keinesfalls sozial sind, sondern zum Niedergang der Öffentlichkeit gerade durch die Vorspiegelung der Öffentlichkeit erheblich und entscheidend beitragen. Je mehr gemeinsame Identität festgestellt oder entwickelt wird, je gleicher alle werden, so möchte man hinzufügen, so unmöglicher wird die Verfolgung gemeinsamer Interessen, erklärt Sennett (dt. S. 295). Das ist nicht unbedingt so paradox, wie es klingt. Nur die Unterschiede lassen die Neugier entstehen und führen zum Entdecken von Neuem.“ > Wo führen uns soziale Netzwerke hin? oder Sind soziale Netzwerke wirklich sozial? – 29. Dezember 2008.

Kann man die Welt neu erzählen? Besinnen wir uns wieder auf uns selbst, gibt es eine reale  Chance, die Welt neu zu begreifen: von Schirach nennt das „ins Freie treten“, „sich der Schwere stellen und dadurch einen eignen Umgang mit ihr finden“. (S. 199) Man könnte sich einen neuen Umgang mit den Medien vorstellen, ganz gemäß „alles prüfe der Mensch“ von Hölderlin. Alles anders machen, als sich nur berieseln lassen. Fragen stellen, auch an die Medien. Sich eingestehen, dass Daddeln immer nur ein Ausdruck von Langeweile ist. Das Smartphone nur zücken, wenn man wirklich etwas wissen will und nicht nur um eine Befindlichkeit hinauszuposaunen: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“, zitiert von Schirach Wittgenstein (> u.a. über Wittgenstein: Lesebericht: Wolfram Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 19297. März 2018) und legt damit den Finger auf die Wunde. Die Sprache zur Beschreibung der Welt kommt uns auch abhanden. Wir lassen uns die Interpretation der Welt durch die Medien gefallen und vergessen, dass jede Bezeichnung von etwas auch eine Verantwortung enthält. Genauso wie es eine Verantwortung für Nicht Gesagtes gibt. Es gibt schon lange das Missverständnis Sartre zu den engagierten Schriftstellern zu zählen. Dabei wird übersehen, dass er erklärt, jeder Schriftsteller und das gilt nicht nur für Schriftsteller, ist mit der ersten Äußerung bereits engagiert und trägt dafür Verantwortung. Diese Verantwortung will von Schirach mit uns neu entdecken.

Heiner Wittmann

Die psychotische Gesellschaft

Die psychotische Gesellschaft

Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden

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Beteiligte Personen

Ariadne von Schirach

Ariadne von Schirach unterrichtet Philosophie und chinesisches Denken an verschiedenen Hochschulen und hält Vorträge im In- und Ausland. Zudem arbeitet si...

Ariadne von Schirach unterrichtet Philosophie und chinesisches Denken an verschiedenen Hochschulen und hält Vorträge im In- und Ausland. Zudem arbeitet sie als freie Journalistin und Kritikerin. Sie wurde bekannt als Autorin der Sachbuch-Bestseller »Der Tanz um die Lust« (2007) und »Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst« (2014). »Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden« (2020) bildet als dritter Teil den Abschluss dieser Trilogie des modernen Le...

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