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Lesebericht und Nachgefragt: Michel Eltchaninoff, In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten

Aufgezeichnet von Heiner Wittmann
27.4.2022

Der brutale Überfall Russlands auf die Ukraine führt zu der Frage, was im Kopf des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, vorgehen mag? Noch Anfang Februar 2022 empfing er westliche Politiker, u. a. den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron > Die Reise von Emmanuel Macron nach Moskau (www.france-blog.info) oder Bundeskanzler Olaf Scholz. Macron glaubte vielleicht noch bei seiner Rückkehr, Zeit gewonnen zu haben, aber schon 14 Tage später am 24. Februar begann der russische Überfall auf die Ukraine: > Der Krieg in der Ukraine – aus deutsch-französischer Sicht (www.france-blog.info). Sehr fadenscheinige Begründungen kamen von russischer Seite, ein Genozid drohe in den beiden ein paar Tage zuvor durch einen Freundschaftsvertrag annektierten Gebieten Donezk und Luhansk und das Naziregime in Kiew müsse gestürzt werden.

Lesebericht und Nachgefragt: Michel Eltchaninoff, In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten

Nachgefragt: Michel Eltchaninoff, In Putins Kopf

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Möglicherweise hat Wladimir Putin mit einer kurzfristigen Aktion gerechnet, die in Russland nicht als Krieg bezeichnet werden darf. Aber die Ukriainer stoppten den Vormarsch nach drei, vier Tagen, jetzt fast 50 Tage nach Beginn des Krieges haben sich die russischen Truppen nördlich von Kiew zurückgezogen, nicht ohne aber in Butscha und anderen Dörfern und Städten mutmasslich Gräueltaten mit der Ermordung von Zivilisten verübt zu haben. In der Südukraine ist die Hafenstadt Mariupol unter entsetzlichen Qualen der Zivilbevölkerung fast gänzlich dem Erdboden gleichgemacht worden.

Bei Tropen ist gerade der Band  »In Putins Kopf« von Michel Eltchaninoff, dem Chefredakteur des Philosophie Magazine erscheinen, der mit seinem Untertitel nach „Logik und Willkür eines Autokraten“ fragt.

Russland hätte alle Möglichkeiten gehabt, im Konzert der Nationen friedlich mit zu arbeiten, aber in einigen Wochen hat der Überfall auf die Ukraine nicht nur zu Tod und Verzweiflung in diesem Land geführt, er hat auch Russland schwerwiegende Sanktionen des Westens beschert und er hat die Sicherheitsarchitektur in Europa vor neue Herausforderungen gestellt.

Wie konnte es dazu kommen, dass ein Präsident wie Wladimir Putin sich dermaßen radikalisiert und diesen mörderischen Krieg vom Zaun bricht? Michel Eltchaninoff rekonstruiert in seinem Buch »In Putins Kopf« die Entwicklung dieses Autokraten, der den Krieg in der Ukraine offensichtlich von langer Hand ganz gezielt vorbereitet hat. Im Januar schenkt Putin hohen Funktionäre und Kader der Partei Einiges Russland als Neujahrsgeschenke, philosophische Bücher von Iwan Iljin (1983-1954), Unsere Aufgaben. Die Philosophie der Ungleichheit von Nikolai Berdjajew (1874-1948) und Die Rechtfertigung des Guten. Eine Moralphilosophie von Wladimir Solowjow (1853-1900). Nein, ein „versierter Kenner der Philosophie“ sei Putin nun wirklich nicht. Ebensowenig ein Intellektueller. (vgl. S. 9) Allenfalls kann man beobachten, wie er sich durch diese und andere Denker hat beeinflussen lassen. Und diese Verbindungen verfolgt Michel Eltchaninoff ganz akribisch und gelangt so zu einer Erklärung für die Entscheidungen des Diktators, der sich von einem Liberalen zu einem konservativen Hardliner und Imperalisten auf dem „Russischen Weg“ gewandelt hat.

Offenkundig versucht Putin die UdSSR ohne den Leninismus-Marxismus zu rekonstruieren. Er weiß, dass die Planwirtschaft gescheitert ist, aber an der „Liebe zur Heimat“, eines unbedingten Patriotismus und der Militärkultur hält er fest. (vgl. S. 17 ff) Den Zusammenbruch der UdSSR versteht er als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, ließ er 2005 verlauten. Alles, außer der kommunistischen Idee – sei zu rekonstruieren. Die Intervention der NATO in Serbien und im Kosovo sei eine Schmach für Russland gewesen, die gerächt werden müsse und es folgen die „Rehabilitierungen der krimineller Persönlichkeiten der sowjetischen Geschichte“, wie Stalin, (vgl. S. 27 f.) wie auch Felix Dserschinski, dem Gründer der Tscheka.

Nicht zu glauben, dass Putin Kants Schrift Zum ewigen Frieden wirklich einmal gelesen hat, zumindest zitiert er daraus im Beisein von Gerhard Schröder.

Wozu fühlt Russland sich zugehörig? Zu Europa und will es sich nach Asien wenden? Während seiner ersten Amtszeit von 2000 bis 2004 war Russland ganz und gar europäisch (vgl. S. 37). Diese Auffassung änderte er im Lauf seiner „konservativen Wende“ nach 2012, die ihn dazu führte die europäische Ausrichtung Russlands in Frage zu stellen und dann immer mehr abzulehnen. (vgl. S. 39)

Sehr aufschlussreich ist das Kapitel 3 über die „Erste philosophische Liebe des Präsidenten“. Der Cineast Nikita Michalkow soll Putin mit Iwan Iljin vertraut gemacht haben, der die Gewalt der Besten gegen das Böse rechtfertigte (vgl.S. 49 f.) und von einer Wiedererhebung Russlands (vgl. S. 54) schwadronierte. Im  4. Kapitel anlysiert Michel Eltchaninoff die konservative Wende des Wladimir Putin: Die „Farbrevolutionen“ in Georgien und in der Ukraine wurden von Putin als Bedrohungen empfunden, die er 2007 in München artikuliert, in dem er sich gegen die Idee einer monopolaren Weltordnung wendet. Es folgt 2013 das Gesetz gegen „Homosexuelle Propaganda“ bevor Putin am 12. Dezember 2013 u. a. zur „Verteidigung traditioneller Werte“ aufruft und sich dabei u. a. auf Konstantin Leontjew (1831-1891, Der Durchschnittseuropäer.Ideal und Werkzeug universaler Zerstörung, 1913) stützt, aus dessen Schriften er seinen Hass auf die vermeintliche Dekadenz Europas bezieht.

Putins Konservatismus favorisiert den „Russischen Weg“, mit dem die Annexion der Krim gerechtfertigt wird, die zu einer „spirituellen Wiedergeburt“ (S. 81) Russlands beitragen soll. Furcht vor einer Einkreisung oder dem Verlust der Souveränität nähren den Nationalismus von Putin. Zu den Ideengenebern gehört auch Niolai Danileswki (1822-1885): Russland und Europa, 1871, der von „moralischen Besonderheit“ des russischen Volkes spricht.

Die Eurasische Wirtschaftsunion, (S. auch 8. Kapitel Welche Art Imperium?) die 2014 mit einem Vertrag zwischen Russland, Kasachstan und Weißrussland aus der Taufe gehoben wird, soll Russland „neue östliche Perspektiven“ bescheren, wie Putin 2015 schreibt, womit er sich u.a. auf Alexander Dugin (*1962) beruft, der Eurasismus und rechtsextremes Idengut miteinander verbindet: an dieser Stelle erinnern wir an das Ansinnen Marine Le Pens nach dem Krieg in der Ukraine wieder > eine Allianz mit Russland zu suchen.

Es lohnt sich, den Zitaten und vermeintlichen Gewährsleuten Putins nachzugehen und genau nachzulesen: Kapitel 7: „Dostojewski und Berdjajew. Die falschen Freunde“. Mit philologischer Präzision deckt Michel Eltchaninoff die Folgen der kursorischen Lektüre, das Herauspicken geeigneter Zitate aus ihren Werken auf, mit denen Putin versucht, diese Autoren für sich zu vereinnahmen.

Sitzen wir zusammen mit Russland auf einem Pulverfass? Bedenkt man die Absicht von „Russki Mir“ („Russische Welt“) (S. 159) und das Ansinnen die Speerspitze der konservativen Bewegung und damit rechtsextremen Bewegung in Europa zu übernehmen, wird verständlich, wie er Philippe de Villiers wie auch Marine Le Pen umworben hat.

Die Folgen der konservativen Radikalisierung Wladimir Putins fasst Michel Eltchaninoff im Kapitel 10 zusammen, das die Russlands Furcht vor Demütigung als Motivation für seinen Imperialismus definiert. nach der orangenen Revolution ist die Ukraine zu einer Obsession, nämlich die Furcht vor einem freiheitlichen Staat als Nachbarn geworden: Geschichtsklitterung: In seinem Aufsatz „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ gibt Putin zu Protokoll, dass er sich mit der Freiheit in der Ukraine nicht abfinden wird. Die Unabhängigkeit der Ukraine in Folge des Untergang der UdSSR ist in seinen Augen ein großer Fehler, der revidiert werden müsse. (vgl. S. 191)

Michel Eltchaninoff gelingt eine Deutung des Denkens Wladimir Putins, das u. a. erschreckende Verbindungen mit rechtsextremen Gruppierungen oder Parteien im Westen aufdeckt. In einem gewissen Sinn beruft sich Putin auf das alten Russland, seine hegemonialen Träume, zwar versucht die marxistische Grundidee der UdSSR zu umgehen, aber der Preis für einen „Russischen Weges“ ist die Diktatur und auch die Unterdrückung nicht nur der eigenen Bevölkerung.

Heiner Wittmann

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Logik und Willkür eines Autokraten

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Beteiligte Personen

© Manon Jalibert, 2021

Michel Eltchaninoff

Michel Eltchaninoff geboren 1969 in Paris, hat nach seiner Dissertation in Philosophie ein wissenschaftliches Werk zu Dostojewski verfasst. Er ist Chefred...

Michel Eltchaninoff geboren 1969 in Paris, hat nach seiner Dissertation in Philosophie ein wissenschaftliches Werk zu Dostojewski verfasst. Er ist Chefredakteur des »Philosophie Magazine« (Frankreich).