Lesebericht: Rosmarie Barwinski, Steuerungsprozesse in der Psychodynamischen Traumatherapie

Bei Klett-Cotta ist der Band von Rosmarie Barwinski, Leiterin des Schweizer Instituts für Psychotraumatologie (SIPT) in Winterthur und Privatdozentin an der Universität zu Köln in Klinischer Psychologie, > Steuerungsprozesse in der Psychodynamischen Traumatherapie erschienen. In seinem Vorwort erinnert Heinrich Deserno den den deutschen Traumapionier Gottfried Fischer (1944-2013), auf dessen Konzepte Allgemeines Dialektisches Veränderungsmodell (ADVM) und die Konvergenz von Empirie und Logik Barwinski sich berufe. Auf der Grundlage von Fallgeschichten entwickelt sie eine spezielle Veränderungslogik, die in ein sechsstufiges Veränderungs- bzw. Transformationsmodell einfließe, worin „Widersprüche auf ein jeweils höheres Niveau der Reflexion gehoben bzw. dialektisch aufgehoben werden“. (S. 11)

Es folgt  eine symboltheroretische Vertiefung. Der Schlüssel zum Erfolg Barwinskis ist die menschliche Entwicklung als logisches Vorbild, dem gelingende therapeutische Veränderungen folgen: eine „therapeutische Arbeit, die Konflikthaftigkeit wieder ermöglicht“. (S. 12) Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht dabei der Begriff Antinomie als Widerspruch zwischen unterschiedlichen Prozessen aber auf unterschiedlichem strukturellen Niveau.

In > Resilienz in der Psychotherapie Entwicklungsblockaden bei Trauma, Neurosen und frühen Störungen auflösen entwickelte Barwinski ein Stufenmodell mit der Frage nach der „Wahrnehmung einer als überwältigend erlebten äußeren Realität im Trauma-Verarbeitungsprozess schrittweise repräsentiert wird.“ (S. 13)


Rosmarie Barwinski
> Resilienz in der Psychotherapie
Entwicklungsblockaden bei Trauma, Neurosen und frühen Störungen auflösen
Mit einem Geleitwort von Hans Holderegger
1. Aufl. 2016, 286 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-608-94938-4


Barwinski erinnert daran, dass Symbolisieren nur im zwischenmenschlichen Kontext mit einem Gegenüber, das die eigenen Gefühle spiegele und benennen könne, durchführbar sei. (vgl. ib.) Ein weiteres Stichwort lautet Gegenübertragung auf der Grundlage von Hans Holdeggers „traumatisierenden Übertragung“, mit ihr  gelingt es der Autorin Übertragung und Gegenübertragung im Verlauf der Traumadeutung zu verändern.

Barwinki kritisiert herkömmliche Techniken zur Behandlung von Trauma-Folgeschäden und entwickelt in diesem Band ein 6-stufiges Modell, mit dem sie zeigt, das durch Trauma zerstörte Selbststrukturen nur in einer Beziehung wiederaufgebaut werden können: Erinnerungsspuren, Traumschema, Mitteilen traumatischer Affekte, Selektion von Erinnerungen durch intrapsychische Konflikte, Narrativ der eigenen Traumageschichte. Gemäß Desano berücksichtigt Barwinski, dass „allgemein Symbolisieren Widersprüche aufhebt bis neue entstanden sind und wieder aufgehoben werden müsse.“ (S. 16) Diesem Modell und dem Symbolisieren folgt auch der Aufbau ihres Buches.

Kapitel 1 untersucht den Ort der Erinnerungsspuren im Gedächtnis und fragt, „wie wird Erinnerung möglich?“

Erst wenn die Mechanismen, die Art und Wiese wir traumatische Erfahrungen gespeichert werden, kann ein traumakompensatorisches Schema angelegt werden, dass Wege zu ihrer Verarbeitung aufzeigen kann. Die Rekonstruktion von Traumatisierungen (S. 33 ff.) ist der erste unerlässliche Schritt

Kapitel 2 fragt nach der Repräsentation traumatischer Erfahrungen, die nur als triadische Struktur beschreibbar sind. Zweipolige Relationen helfen nicht weiter. Barwinski vergleicht die Repräsentation traumatischer Erlebnisse in Stufen mit der Repräsentanzenbildung bei Kindern. Die unterschiedlichen Formen der Erinnerung beeinflusst auch die Beziehungsrelationen von heute. Das „Symbol“ steht im Zentrum dieses Kapitels: Hier wird der Begriff „Symbolisierungsniveau“ für die unterschiedlichen Stufen des Konstruktions- und Transformationsprozesses eingeführt

Kapitel 3 analysiert die Organisation von Symbolisierungsprozessen,u.a. nach Anna Aragno vgl. S. 76 ff., die von Rosmarie Barwinski den von Aragno definierten „Ebenen der symbolischen OrganisationAusdrucksformen traumatischer Erfahrungen und deren Mitteilung zuordnet“ (S. 79) Hier kommt der systematische Charakter dieses Lehrbuch besonders präzise zum Ausdruck: vgl. S. 79-86. Es folgt Das „vierdimensionale Symbolisierungsschema von Heinrich Deserno“ (S, 86 f), womit Widersprüche im Erleben der Traumata-Patienten ermittelt werden.

Der Romanist, der das Buch von Rosmarie Barwinski liest, fühlt sich in diesem Kapitel an den so bemerkenswert interessanten Aufsatz von Auguste Flach erinnert: „Über symbolische Schemata in produktiven Denkprozessen“[1], den Jean-Paul Sartre 1927 zur Grundlage seiner Abschlussarbeit an der École Normale Supérieure zu diesem Thema mit dem Titel L’image dans la vie psychologique. Rôle et Nature[2] gemacht hat, das erst 2019 als La Mémoire de fin d’études (1927) in der jetzt vorliegenden Form veröffentlicht wurde. Das ist das Thema seines Vortrags in der Sorbonne im Rahmen der Tagung im Juni 2020 der > www.ges-sartre.fr – verschoben auf einen Termin im Oktober oder November 2020.

Kapitel 4 „Was braucht Traumaverarbeitung?“ U. a. die Reflexionsfähigkeit der/der Therapeuten/in, der das Denken und Verstehen von Übertragung und Gegenübertragung verständlich machen kann. Dieses so zentrale Kapitel enthält nochmal eine Interpretation des bereits bekannten Stufenmodells: S. 99 f.

Kapitel 5 Der Übergang zu einer nächsthöheren Symbolisierungsstufe legt es nahe,“Entwicklung als Konstruktionsprozess“ zu beschreiben.

Kapitel 6 hebt Blockaden durch Lösen von Widersprüchen auf. Barwinski beruft sich auf der ersten Seite dieses Kapitel auf Gottfried Fischer und sein  Allgemeines dialektisches Veränderungsmodell ADVM. (vgl S. 135 ff)  Der Romanist, der diesen Lesebericht schreibt, kann nicht umhin, an dieser Stelle an die dialektische Methode zu erinnern, mit der Jean-Paul Sartre in „Der Idiot der Familie. Das Leben des Gustave Flaubert von 1821-1857“ herauszufinden versucht, wie Flaubert aus seiner Neurose eine so erfolgreiche Schriftstellerkarriere konstruiert hat.[3]

Kapitel 7 Phantasien bei der Traumabearbeitung können bedrohliche Erfahrungen und Affekte abwehren. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei den unbewussten Phantasien zu, die möglicherweise auch fehlinterpretiert werden können. Auch hier wieder zeigen sich die Stärken dieses Lehrbuchs, in dem hier vorgeführt wird, wie aus pathogenen Faktoren eine salutogenetische Strategie entwickelt wird.

Kapitel 8 stellt verhaltenstherapeutische Methoden zur Traumabearbeitung vor. Die so unterschiedlichen Ansätze, die hier von der Autorin dargestellt werden, spiegeln die ganze Dramatik des Geschehens wider und geben zu verstehen, dass eine Auswahl und eine Kombination der Behandlungsmethoden individuell anzupassen ist: S. 209 f.

Kapitel 9 Psychodynamische Verfahren zur Traumabearbeitung nach Barwinski sollte sich statt auf die Beseitigung der Symptomatik beschränkten Therapie die Psychodynamik als veränderungswirksam in den Blick nehmen und anwenden, um Veränderungsfaktoren zu ermitteln und zu aktivieren. Wiederum referiert Barwinski verschiedene Ansätze zur Traumabearbeitung und zeigt in einer Übersicht die von ihre empfohlene Gewichtung dieser Ansätze (vgl. S. 246 f.)

Prof. Dr. phil. Rosmarie Barwinski ist Mitherausgeberin der Zeitschrift »Trauma« (Asanger-Verlag) und Redaktionsmitglied der Zeitschrift »Psychotherapie-Wissenschaft« (AssoziationSchweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ASP). Außerdem ist sie als Supervisorin am Psychoanalytischen Seminar in Zürich tätig und arbeitet in eigener Praxis in Winterthur. Sie hat bereits zahlreiche Schriften im Bereich Traumatologie und Therapieforschung veröffentlicht.

Homepage des Instituts (Schweizer Institut für Psychotraumatologie (SIPT))
> www.psychotraumatologie-sipt.ch

Rosmarie Barwinski
> Steuerungsprozesse in der Psychodynamischen Traumatherapie
Mit einem Vorwort von Heinrich Deserno
1. Aufl. 2020, 272 Seiten,
ISBN: 978-3-608-96424-0

[1] Auguste Flach, Über symbolische Schemata in produktiven Denkprozessen, im: Archiv für die gesamte Psychologie 1925, Band LII (369-440).

[2] Sartre, L’image dans la vie psychologique. Rôle et Nature. Mémoire présenté pour l’obtention du Diplôme d’Études supérieures de Philosophie 1926-1927. Sous la direction du Professeur Henri Delacroix, in: Sartre inédit: le mémoire de fin d’études (1927), in: Etudes sartriennes, N°. 22, hrsg. v. G. Dassonneville, Paris 2018, S. 43-246. Vgl. dazu G. Dassonneville, Une contribution sartrienne au roman de la psychologie. Le Diplôme de l’image (1927), in: Sartre inédit, a. a. O., S. 15-41.

[3] Im Vorwort zu seiner Flaubert Studie hat Sartre den dialektischen Ansatz seiner Studie konkretisiert:  Sartre, Der Idiot der Familie. Das Leben des Gustave Flaubert, Band I,  übers. v. T. König, Reinbek b. Hamburg 1986., S. 7: „„Ein Mensch ist nämlich niemals ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen: von seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er sie, indem er sich in ihr als Einzelnheit wiederhervorbringt. Da er durch die einzelne Allgemeinheit der menschlichen Geschichte allgemein und durch die allgemeinmachende Einzelnheit seiner Entwürfe einzeln ist, muß er zugleich von den beiden Enden her untersucht werden.“ Vgl. H. Wittmann, Sartre und die Kunst. Die Porträtstudien vpon Tintoretto bis Flaubert, Tübingen 1996, S. 118. Sartre nennt seine Untersuchungsmethode „progressiv-regressiv“: vgl. ib. S. 121.