Ich vermisse die Fußnoten in diesem Heft. Die > Januarausgabe 2014 des MERKUR(1) bietet eine Untersuchung von Georg Stanitzek zur »Lage der Fußnote« an.
Man könnte sich ja auch angewöhnen, die Anmerkungen in ein kleines Kästchen im Text zu packen:
(1) Wir haben auf unserem Blog schon öfters über die Lieblingszeitschrift des Autors unseres Blogs berichtet: > MERKUR. |
Fußnotenlose Texte sind schöner, stimmt. Der Lesefluß wird nicht gehemmt. Aber oft wird das Nachschlagen einer Fußnote – sind sie hinten im Buch platziert – zu einer Qual, welches Kapitel, welche Seite, welche Nummer der Fußnote? „Mit der Einrichtung von Endnoten findet das eigentliche Drama der ungeliebten Fußnote statt.“ (S. 7) Und dann wieder zurückblättern: In welchem Kapitel war ich eben noch? Stanitzek hat eine wunderbare Ästhetik, ja geradezu eine Phänomenologie der Fußnote mit historischen und rhetorischen Aspekten verfasst. Danach werden Sie sich dreimal Überlegen, ob Sie wirklich etwas befußnoten wollen. Fehlen die Fussnoten mutiert der Text zum Essay.(2) Keine Fußnoten, keine Anmerkungen, keine Belege, keine Referenzen machen auch Ärger und geben leicht zu Vermutungen Anlass, der Autor habe irgendwo abgeschrieben.
(2) S. auch in diesem Heft: Jürgen Kaube, Der Essay als Freizeitform von Wissenschaft, S. 57-61. |
Manchmal kann man ein kleines Problem, das nicht in den Text gehört, aber genannt werden muss, wenn es wirklich nicht rausgekürzt werden kann, elegant in die Fußnote stellen. Ich mag das, und Stanitzek erinnert daran, dass Wikipedianer solches Nachdenken mit „TF“ als Theroriefindung brandmarken, denn in Wikipedia darf nur im Beleg erscheinen, was es wirklich gibt.(3)
(3) Man müsste auch die Abkürzung FB für falsche Behauptung erfinden, um Artikel zu kennzeichnen, die gar nicht so recht der Wahrheit entsprechen: > Albert Camus et Wikipédia – So was gibt es schon in Wikipedia, nur ist die Prozedur, die kollektive Intelligenz dazuzubewegen, Korrekturen anzunehmen, langwierig und führt zu endlosen Diskussionen. |
„Wissenschaftliche Kommunikation kann sehr wohl ohne Anmerkungsapparate stattfinden, erwiesenermaßen.“ (S. 8) Man kann Stanitzek gar nicht widersprechen, und man durchaus einen wissenschaftlichen Essay so formulieren, damit alle Belege im Text erkennbar sind. Folgerichtig kommt Stanitzek auf die Digression zu sprechen, die die Kunst des Essays eigentlich nur noch verstärkt, weil sie nützlich ist, um das Thema von verschiedenen Perspektiven diskutierend in den Blick zu nehmen. Montaigne hat nichts anderes gemacht. Und in Sartres > Flaubert-Untersuchung (Links im Text sind viel praktischer als die alten Fußnoten) füllen die Digressionen zuweilen über 100, 200 Setien lang, danach stellt er fest, jetzt habe er dies oder jenes Problem aus der Jugend Flauberts behandelt, er habe nun dieses oder jenes Ergebnis, und nun könne es weitergehen. Genug. Stanitzeks Artikel über die Fußnoten ist sehr empfehlenswert. Ein kluger Essay ohne Fußnoten.
> MERKUR. Blog der deutschen zeitschrift für europisches Denken
Carlos Spoerhase betrachtet die Gegenwartsliteratur als Gegenstand der Literaturwissenschaft und greift auch die Frage auf, inwieweit die Aussagen des Autors zur Interpretation seiner Werke berücksichtigt werden muss oder sollte: „Im Unterschied zu längst verstorbenen Autoren kann der noch auskunftsfähige und häufig auch emphatisch auskunftswillige Autor von Gegenwartsliteratur dem Literaturwissenschaftler als Quelle für Informationen über seine Person und seine Innenwelt, seine Intentionen und Schreibmotive sowie die Genese seiner Texte dienen.“ (S. 21) Das Ergebnis ist eindeutig: „Unter der Hand führt dieses Verfahren der Gewinnung von »Daten« aber zu einer prekären Verschränkung von Beobachtung und Teilnahme und zu einer unkontrollierten Aufwertung autorzentrierter Interpretationsverfahren.“ (S. 21 f.) „L’homme et l’oeuvre“ – der missliche Interpretationsansatz, das Werk eines Autors mit der Kenntnis seines Lebens deuten zu wollen. > Sartre merkte einmal in Was ist Literatur? (1947) an, Kritiker würden sich meist nur um nicht lebende Autoren kümmern, ihre Bücher ständen wie Urnen in einem Kolumbarium, und diese Kritiker hätten eben nicht den Mut noch nicht (endgültig) beurteilte Werke lebender Autoren zu besprechen. Das hat sich geändert, wie Spoerhase dies einleuchtend dargelegt. Nur wird zu oft in den Medien mehr über die Autoren als über ihre Bücher gesprochen: „Wenn sich heute Literaturwissenschaftler treffen, um das Werk von Gegenwartsautoren zu diskutieren,
empfinden sie es dagegen als besondere Auszeichnung, wenn diese der Veranstaltung persönlich beiwohnen. Dabei wird ihnen in der Regel nicht die Rolle der stillen Beobachter, sondern jene der aktiven Selbstdeuter und Fremdzensoren zugewiesen, wogegen viele Autoren auch nichts einzuwenden haben: Sie halten Eröffnungsvorträge und geben Schlusskommentare und werden damit zu einem Teil der literaturwissenschaftlichen Deutungsgemeinschaft.“ (S. 22)
Ernst-Wilhelm Händler untersucht mit Georg Simmels Philosophie des Geldes von 1900 die klassische und Verhaltensökonomie.
Wolfgang Kemp liest in seiner sechsten und letzten Ästhetikkolumne die Schrift an der Wand.In seiner Popkolumne erzählt Eckhard Schumacher Nachtlebensgeschichten. Robin Celikates hat sich mit dem französischen Soziologen Luc Boltanski befasst, der jüngst die Nähe von Soziologie und dem Privatdetektiv beobachtet hat. Christian Schärf hat Elias Canettis »Masse und Macht« als Großessay gelesen.
Und dann die Marginalien: Jürgen Kaube schreibt über »Der Essay als Freizeitform von Wissenschaft«. Matteo Galli „The Artist is Present“ und das Zeitalter der Poetikvorlesungen.
David Klett hat eine Apologie der Tautologie erdacht. Dirk Baecker legt eine »Rechnung mit drei Unbekannten« vor. Katy Derbyshire hat eine Erzählung von Christa Wolf übersetzt und berichtet über ihre Erfahrungen. Tobias Haberkorn war in Neapel, Kenneth Goldsmith meint, der dümmste aller Dichter zu sein, und Hannes Böhringer zögert zwischen Sokrates und der Schule. Und zuletzt gibt es noch das Journal von Stephan Herczeg.