Urlaubshalber verspätet sich der Lesebericht über die August-Ausgabe des MERKUR, das wurde uns bewusst, weil die September-Ausgabe bereits angekündigt wurde und ihr Inhaltsverzeichnis wieder aufs Neue echten Lesegenuss mit Widerspruchspotential verspricht. Nun also erst das August-Heft:
Der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach greift die »Bildungsferne« auf. Bei ihm zu Hause brauchte man kein Bücherregal. Aber Reichenbach zitiert Albert Camus‚ Roman Der erste Mensch, in dem Camus berichtet, wie sein Lehrer Bernard ihm den Übergang auf das Gymnasium in Algier geebnet hat. Gleichheit ist nicht unbedingt das einzige Stichwort, mit dem der Bildungsferne – den Reichenbach mit Recht als verachtend bezeichnet – begegnen kann. Ungerechtigkeiten der Herkunft kann man nicht aufheben. Aber Lehrer wie Bernard bewirken viel mehr als die neuesten didaktischen Modelle. Mit Recht besteht Reichenbach in der seiner Zusammenfassung darauf, wie wenig die Lern- und Bildungsforschung sich den tatsächlichen Lern- und Bildungsprozessen zuwendet. Mit Schaudern denke ich immer noch an die Referendarzeit, in der mir gesagt wurde, das oder jenes sei zu schwer für die Schüler: z. B. just die Stimme von Camus (1) selbst, der die Stelle liest, wo Meursault seinen Beichtvater an der Soutane packt… ich weiß noch wie Schüler F. in der letzten Reihe neugierig aufguckte, auf einmal hellwach war, so hatte ihn seine Lehrerin – die saß hinten und sah das gar nicht – vielleicht nie gesehen… nach der Stunde wurde mir vorgehalten, viel zu schwer für die Schüler. Im Französischunterricht gipfelte diese Meinung in der Vorgabe nicht mehr als acht oder zehn Vokabeln pro Stunde, und ein Lehrer war nach dem Zugucken von hinten entsetzt, weil meine Schüler Fragen stellten – das hatte ich ihnen beigebracht, weil mit die 65 Fragen pro Stunde ihres Fachlehrers missfielen. Am schlimmsten fand ich die Bemerkungen im Lehrerzimmer über Schüler, die ein 4er oder gar 5er Kandidat seien. Genug, sonst wird dieser Blogbeitrag wieder zu lang.
In diesem MERKUR steht noch mehr. Joachim Fischer ist ein Soziologe aus Dresden macht erinnert daran dass seine Stadt schon immer eine Sonderrolle hatte: bei der Wiedervereinigung, dem Wiederaufbau der Stadt, dem Gedenken an die Bombardierung und auch in Sachen Pegida: „ein tiefer Schatten stadtgesellschaftlichen Versagens“ (S. 16): Hat Dresden Antennen? heißt der Titel seines Beitrags und fragt nach den Funktionen der Stadt für gesamtgesellschaftliche Debatten seit 1989. Pegida kommt aus Dresden, aber das Phänomen das diese Bewegung aufzeigt, ist keinesfalls nur in Dresden von Politikern unterschätzt worden, auch überhaupt fehlende politische Impulse auf Bundesbene können viel bewirken.
Der Politologe Jan-Werner Müller versucht den Begriff Populismus in Theorie und Praxis zu klären, Ja diesen Begriff gibt es und er zeigt, „dass manche Politiker, Parteien und Bewegungen zwischen Demokratie und Populismus changieren“ (S. 37).
Ute Sacksofsky untersucht in ihrer letzten Rechtskolumne ob die Ergebnisse der Gender Studies Eingang in das Recht finden. Christian Demand schriebt über den Gedenktags- und Jubiläumswahn und von neueröffneten Museen in Deutschland. Wolfgang Martynkiewicz hat das neue NS-Dokumentationszentrums in München besucht und fragt noch einmal nach der Rolle der bayerischen Hauptstadt beim Aufstieg des Nationalsozialismus. Jakob Hessing hat die erste Gesamtausgabe der Werke Ernst Tollers gelesen.
Stefan Kleie untersucht, wie sich die ideologischen Grenzverläufe in der Neuen Rechten in Deutschland wandeln. Martin Sabrow erinnert an Orte und Landschaften, wo historische Verbrechen verübt wurden. Achim Landwehr präsentiert eine Theorie zur Dialektik von Erinnern und Vergessen. Martin Burckhardt erinnert an Utilitarismus Jeremy Bentham. Und Stephan Herczeg legt eine Fortsetzung seines Journal vor.
(1) > Albert Camus – www.france-blog.info