Lesebericht: Psyche 5-2015

psyche-5-2015In der Mai-Ausgabe der > PSYCHE. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Heft 5/2015 wird über den 49. IPV-Kongress, Boston 2015. „Die Welt im Wandel. Form und Nutzen der Psychoanalyse heute“ berichtet. Alessandra Lemma hat dort den Hauptvortrag gehalten: „Psychoanalyse in Zeiten der technologischen Kultur. Überlegungen zum Schicksal des Körpers im virtuellen Raum“. Sie weist daraufhin, dass die psychoanalytische Literatur bisher nur wenige Untersuchungen zu den Auswirkungen der neuen Kommunikationsformen via Internet auf die psychische Struktur im analytischen Setting existieren. Es ist kein bloßes Nebeneinanderexistieren virtueller Welten und der realen Welt, denn heute hat dieser Zusammenprall schon ernstzunehmende und fast beängstigende Auswirkungen. Lemmas Absatz „Das Schicksal des Körpers im Cyberspace“ eröffnet die weiten Themenbereiche, die sich hier psychoanalytischen Ansätzen und Fragestellungen bieten, wobei die Verschiebung der Verhältnisses zwischen innerer und äußerer Realität (S. 400) nur ein Aspekt unter vielen ist, aber ein Aspekt mit gravierenden Folgen. Hyperaktivität der Kinder und Schüler, ja sogar Orientierungslosigkeit, keine ausgeprägte Kompetenz, Inhalte im Netz beurteilen zu können sind nur einige wenige Stichworte, die das Ende der Kreidezeit in der Schule mit sich bringt. Dazu: > Französischlernen mit dem Computer (I) – Die Welterfahrung ändert sich und hat schwerwiegende Auswirkungen, wie Lemma dies am Beispiel der „Arbeit des Begehrens“ kurz, prägnant und eindrucksvoll erläutert (S. 401) Wieder wird in diesem Vortrag ein klinischer Fall vorgestellt und interpretiert. Lemma Artikel ist so lesenswert, weil er den Blick für die Gefahren der Ausbildung des Individuums, das immer und überall online ist, so nachhaltig unterstreicht. Wir wissen alle, dass Google uns immer nur eine Minisicht auf die Inhalte des WWW anbietet und sind schon immer ganz froh, dass es nicht mehr ist, obwohl wir es besser wissen. Sehenden Auges rennen wir dauernd in unser Unglück, weil wir im Netz Dinge machen und konsumieren, die uns im normalen Leben nie einfallen würden. Wenn wir den PC in der Schulzeit gehabt hätten! Dann hätten wir die Anzahl unserer Schülerzeitung verdreifachen können. Lemma nennt auch die Illusion interpersonneller Transparenz. Menschen, denen man in den sozialen Netzwerken begegnet, nicht kennenlernt, werden später bei einem Treffen im realen Leben an dem virtuellen Bild gemessen, d. h. Online-Surfer-in-sozialen-Netzwerken verlernen, wie das geht, einen Menschen kennenzulernen.

Noch ein Hauptvortrag: Virginia Ungar referierte über „Der Analytiker und sein Werkzeugkasten. Die Deutung neu erkundet“, die ihre Betrachtungen mit zwei Vignetten illustriert. Besonders Ungars Kapitel über die „Psychoanalytische Deutung gestern und heute“ ist interessant, weil sie so zugleich hier einen historischen Abriss der Psychoanalyse vorstellt.

René Roussillons Hauptvortrag „Zur Einführung in die Arbeit an der primären Symbolisierung“ in Boston wird hier abgedruckt. Er meint, dass die Erweiterung der Kompetenz des psychoanalytischen Hörens auf narzisstische Formen des Leids feinere Instrumente verlangt, um zu einem tieferen Verständnis der frühesten Kindheit zu finden. Roussillon zeigt an einer Vignette, was dieses Verständnis der primäre Formen der Symbolisierung leisten könnte. Ohne die Parallelen hier zu weit zu führen, aber Sartres Analyse der Kindheit von Jean Genet in Saint Genet. Comédien et martyr(1), Paris 1952 (= 1. Band der gesammelten Werke von Jean Genet) (und auch von Gustav Flaubert: L’Idiot de la famille, La vie de Gustave Flaubert de 1821 à 1857, Paris 1/1970/2, 2801 Seiten) mit den Beobachtungen der Störung der Persönlichkeitsentwicklung, der Verbindung von fehlgeleitetem Triebleben und das Abgleiten in das Verbrechen, das Genet selber erlebt und literarisch verarbeitet verlangt, geradezu nach einem Blick auf die Entwicklung der Psychoanalyse nach 1950 und einen Vergleich mit den heutigen Standpunkten der Psychoanalyse. >Sartre, der zwar das Unbewusste einfach ablehnte, weil für ihn ein Bewussteins immer ein Bewusstsein von etwas ist, ist auch der Autor des Drehbuchs zum Film über Sigmund Freund Freud. Le scénario unter der Regie von Jean Houston. Insoweit wusste er, wovon er sprach, wenn er eine Art Anamnese des jungen Jean Genet unternahm. Aufsätze wie der von Roussillon öffnen den Blick auf wichtige Aufgaben der Psychoanalyse.

Es folgt eine Buchessay von Michael B. Buchholz „Non-»positivistische« Empirie der Konversation – wie die Psychoanalyse dabei ist, endlich wieder Beobachtungswissenschaft zu werden“ und Rezensionen.

Wolfgang Mertens, München, berichtet über Hans Hopf: Die Psychoanalyse des Jungen den wir nach unserem > Lesebericht interviewt haben: > Nachgefragt: Hans Hopf, Die Psychologie des Jungen. Christian Schneider, Frankfurt/M. hat Helmut Dahmer, (Hg.): Analytische Sozialpsychologie. Texte aus den Jahren 1910–1980 gelesen. Caroline Neubaur, Berlin, rezensiert den Band des Instituts für Kulturanalyse e.V. (Hg.): Für eine Konfliktkultur in Familie und Gesellschaft. Kommunikation in interkulturellen und interreligiösen Übergangsräumen. Werner Pohlmann, Köln, legt seine Beurteilung von Michael psyche-5-2015Ermann: Der Andere in der Psychoanalyse. Die intersubjektive Wende vor. Manfred G. Schmidt, Köln, berichtet über Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung und Jakob Hessing, Jerusalem, las Kai Rugensteins: Humor. Die Verflüssigung des Subjekts bei Hippokrates, Jean Paul, Kierkegaard und Freud

> Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Heft 5/2015

(1) Sartres Saint Genet. Comédien et martyr ist eines der Themen der diesjähirgen Jahrestagung der www.ges-sartre.fr im Juni in der Sorbonne.