MERKUR – Das Doppelheft September/Oktober 2008

MerkurBeim Durchblättern der vielen Aufsätze von Historikern, Philosophen und Soziologen fällt auf, dass die Gruppe der Literaturwissenschaftler, einschließlich der Schriftsteller in diesem Heft zahlenmäßig unterlegen ist. Das liegt ohne Zweifel an der Ausrichtung des Heftthemas und der Akzente, die die > Herausgeber setzen wollten. Aber von außen betrachtet muss daraufhingewiesen werden, daß das Neue zwar stets von Historikern mit besonderer Aufmerksamkeit und zu Recht beobachtet wird, denn sie messen es an der Vergangenheit. Aber wie kommt das Neue in die Welt? Und das ist der Punkt, der von Historikern meistens unterbelichtet wird. Mit der Konzeption der Festschrift für Dirk Hoeges > Literarische Autonomie und intellektuelles Engagement sollte die unauflösbare Einheit von Literatur und Geschichte demonstriert werden. Es sind die Literaten in erster Linie, denen an der geistesgeschichtlichen Entwicklung einen nicht zu unterschätzenden Anteil haben. Man darf auch von der Antizipation sozialer Gegebenheiten in der Literatur sprechen, da ihnen das „Wie es sein könnte“ viel vertrauter als dem Historiker sein darf. Diese dürfen aber die Literatur und die Geistes- und Kulturgeschichte nicht ausblenden, da hier die Scharnierstellen zwischen Vergangenheit und Zukunft erkennbar werden. Der Beitrag von Jürgen Paul Schwindt, Vom Phantasma zur Denkfigur. Das Neue bei den Griechen und Römern ist nach dieser Art verfasst. Er zitiert die Saturnalien des Macrobius und entwickelt die ganze Argumentation seines Beitrags entlang der Werke von Literaten, Historikern und Staatstheoretikern. Keiner der Autoren dieses Bandes, Volker Gerhardt, Norbert Bolz, Rainer Hank wie auch Jörg Lau kommt ohne die Nennung der Intellektuellen aus, die die Entwicklung vorantreiben. Christiane Meier untersucht die Entwicklung des Neuen in der Polis und zitiert Indizien aus Aischylos‘Orestie. Alexander Demandt führt die Fäden zusammen und beschreibt die Neuerungen der Spätantike. Die Renaissance und der Aufstieg Europas ist das Thema con Enno Rudolph. „Pico della Mirandola oder der Kampf und die Freiheit“ lautet eine seiner Kapitelüberschriften.

Und dann folgt in diesem Heft ein zweiter Teil, der die Neugier eingehend unter soziolgischen, philosophischen und auch kulturhistorischen oder – wissenschaftlichen Aspekten untersucht. Martin Seel schreibt über Neugier als Laster und Tugend mal als Motor, mal als Sand im Getriebe. Auch Friedrich Ohlmann hat den zweideutigen Klang der Neugier aufgenommen. Er geht in seinem Beitrag auf Pädagogik und die Entwicklung von Kindern ein. > Helga Notwotny ergänzt seine Ausführungen und spricht von Grenzüberschreitungen. Dann folgen anthropologische Beiträge über Erstbegegnungen mit indigenen Kulturen (Karl-Heinz Kohl) und von Siegfried Kohlhammer über das Neue in der japanischen Kultur, Paul Michael Lützeler berichtet über China. Hans Ulrich Gumbrecht stellt in seinem Beitrag die Stagnation dem Fortschritt gegenüber. Die letzten Beiträge befassen sich mit Mode, Handys und reflektieren wie Hans-Peter Müller das Verhältnis von Tradition und Moderne.

In ihrem Vorwort erklären beiden > Herausgeber, Karl Heinz Bohrer und Kurt Sceel, dass das Neue in Misskredit geraten sei. Daraus wollen sie aber nicht ableiten, dass die daraus entstehende Scheu ein neues Paradigma werden könne. Ich kann nur wiederholen: Hinsichtlich der neugiere und dem Neuen sind die Schriftsteller und Intellektuellen gefordert, und ich freue mich auf die vielen Neuerscheinungen der Buchmesse. Und neugierig bin ich allemal. Wer wird das Neue als Thema sich aneignen?

> MERKUR. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken