MERKUR- Juni 2010

Kaum war der Lesebericht für die Nr. 732 des MERKUR online, lag schon die nächste Ausgabe in meinem realen Postkasten. Und weil er auf meinem Lesestapel ganz oben gelandet ist, kommt er auch gleich dran.

Das Juni-Heft steht unter der Überschrift „Evolution“: der Biologen Hubert Markl, hat bei Darwin nachgelesen und lässt die Schöpfung sich selbst betrachten: Es geht um den Menschen und seine Kultur als Reflexionsagent der Natur: Durch den menschlichen Geist sieht die Natur sich selbst an. Henning Ritter diskutiert das Fortleben des Lamarckismus in der Kulturtheorie und fängt mit einer Neulektüre von Paul Kammerers „Das Gesetz der Serie an“. Peter N. Miller hat einen interessanten Aufsatz über ein faszinierendes Buch von Barry Cunliffe Facing the Ocean, The Atlantic and Its People, 8000 CC – AD 1500 (Oxford 2001) geschrieben. Es geht um Archäologie, was man aus den Funden lesen kann und überhaupt über die europäische Geschichte als Labor humaner Evolution. Mateusz Stachura hat sich Gedanken über den Traum der liberalen Demokratie gemacht und meint Das Zeitalter des Wertekonsens geht zu Ende. In sehr differenzierter Form betrachtet er aus heutiger Sicht die Zeitenwende von 1989. Wenn ich mir in Erinnerung rufe, wie wir damals die Wende erlebt haben und wenn man jetzt den Aufsatz von Stachura liest, dann kann man schon erkennen, wie zu bestimmten Momenten Entscheidungen unserer Politiker den Lauf der Dinge beeinflusst haben. Aber der Autor geht viel weiter und versucht, Interpretationsmuster für Perzeptionstheorien bezüglich des Kapitalismus und der Freiheit auf der Seite des Osten zu entwickeln: „Der Westen hat zwar den Wettbewerb gewonnen, der Osten hat aber mit seiner Deutung recht behalten: Es ging doch mehr um den Kapitalismus als um die Freiheit.“ (S.203) Also freuen wir uns darüber, wenn uns unsere Politiker heute die gute Nachricht verkünden: Der Soli wird nicht erhöht. Auf diese Ebene der Diskussion begibt Stachura sich erst gar nicht. Aber immerhin kann man sich nach der Lektüre seines Artikels schon sagen, unserer politischen Klasse müsste hinsichtlich des Zusammenwachsens von Ost und West mehr als der Soli einfallen. Und dann erweitert der Autor seinen Blick auf die osteuropäischen Länder: Interessante und vielfältige Anregungen für alle, die sich mit der Europäische Geschichte nach 1989 befassen.

Udo Di Fabio ist Bundesverfassungsrichter und Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn. Unter der Überschrift Die Freiheit des Geldes schreibt er über selbst regulierende und verändernde Systeme als das Modell liberaler Demokratie und die Institution des Geldes. Sein wichtigstes Stichwort ist Vertrauen, das bei allen Formen des Geldverleihs nicht nur in der Finanzwirtschaft und im Bankensystem eine grundlegende Rolle spielt. Geld, das man nicht hat, kann man auch nicht ausgeben. Und der Staat? Macht er aus sich einen „genuinen Wirtschaftsakteur“ (S. 518) mehr als das Verfassungsrecht dies jemals vorgesehen hat? Wenn man bedenkt, an wie vielen Stellschrauben prozentualer Natur in Berlin hier und da ein bisschen gedreht wird, ohne dass eine einsichtige Betriebsanleitung gelesen, geschweige denn befolgt wird, dann ist der Aufsatz von Udi di Fabio auch ein interessanter Lektürestoff für die Koalitionsrunde vom letzten Wochenende. Das Verhältnis zum Geld seitens der Politik und der Bürger zeigt sich auch in der Beantwortung der Frage „Wer lebt denn hier über seine Verhältnisse?“, die Stephan Ueberbach, SWR, für sich in einem offenen Brief an die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin beantwortet hat. Der Staat hat unglaubliche Privilegien aller Art (nicht nur an Rennpferde und Hunde mittels billigem Hundefutter) verteilt und sammelt jetzt notgedrungen hier und da wieder etwas ein, spart überhaupt, sondern will sich weniger Geld leihen, damit er nicht soviel ausgeben kann. Aber ein schlüssiges Konzept ist nicht erkennbar. Der Staat oder die Koalition ist operativ tätig, um für sich das Beste herauszuholen, anstatt sich nur auf eine Aufsichtsrolle zu beschränken. (Vgl. immer noch S. 518). Zu seinen Pflichten, seiner Aufsichtspflicht, würde es gehören, dem Bürger das Leben zu erleichtern und ihm nicht mit der Steuererklärung wichtige Lebenstage zu nehmen. – Nebenbei bemerkt: Paul Kirchhof hält am Donnerstag, 10. Juni 2010 um 20 h im Wirtschaftsclub, der im Stuttgarter Literaturhaus zusammenkommt, einen Vortrag: Gerechtigkeit ist unteilbar. – Und dann betont Udo Di Fabio noch die „Autonomie und die Funktionsfähigkeit der Geldwirtschaft“ ( S. 521). Und die Regierung muss in diesenTagen auch erklären, wieso sie sich um einzelne Unternehmen wie z. B. Opel so intensiv kümmert. Deutschland hat in bezug auf Europa und die Austarierung einer neuen Finanzordnung keine schlechte Startposition, aber der Autor warnt davor, dass der Staat sich immer mehr als Wirtschaftsakteur betätigt.

Karen Horn unterrichtet uns über Konsequenzen, die die akademische Ökonomie aus ihrer schlechten Performance uns bislang vorenthalten hat. Wolfgang Ullrich beobachtet, wie große Wirtschaftsunternehmen Kunst und Künstler manipulieren. Ingo Meyer hat „Ein Klotz von Buch“ (S. 533) gelesen. Die neue Biographie Walter Benjamins von Jean-Michel Palmier. 1300 Seiten. Das ist zu lang und zu dick. Sartres Flaubert Studie hat sogar 2801 Seiten, das ist aber ein fulminantes Feuerwerk aller möglichen Ansätze Literatur zu interpretieren. Ob Palmier da irgendwie rankommt? Meyer scheint nicht überzeugt zu sein.

Horst Meier versteht die Wunsiedel-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als Einführung eines Sonderrechts gegen Neonazis und einen Angriff auf die Meinungsfreiheit.

Fußball-WM. Yvonne Wübben erklärt uns rechte und linke Spielkultur. Dietmar Voss erzählt von den Abenteuern eines deutschen Lehrers in Italien: Capricci salernitani. Ein komischer Bericht, ein bisschen nachdenklich, aber sehr realistisch erzählt.

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