Lesebericht: Alan Pauls, Geschichte der Tränen

Von Alan Pauls erscheint in der Übersetzung von Christian Hansen die > Geschichte der Tränen, die eine ganz merkwürdige Episode der argentinischen Geschichte erzählt. Inmitten aller Aufregungen und der lauten Politik werden leise Zwischentöne vernehmbar, die auf das Private hinweisen. Die Hauptperson ist völlig sensibel und ist seit seiner Jugend mit der ganzen linken Politliteratur wohl vertraut. Auf seine Mitmenschen übt er einen seltsamen Eindruck aus. Nach einer Fernsehübertragung eines Putsches hat er aber plötzlich keine Träne mehr. Als er sich nach den Gründen fragt, beginnt er das Wesen des Lebens in einer Militärdiktatur zu verstehen. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem eigenen Leben und der politischen Entwicklung seines eigenen Landes, und was kann der Einzelne tun? Am Anfang deute Pauls dieses Verhältnis zwischen Biographie und Zeitgeschichte auf seine Weise an: „Er unterscheidet zwei Arten von Schwäche. Eine, die er schätzt, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad, und die sich aus einem moralischen Dilemma herleitet. Supermann muss zwischen zwei Übeln wählen: einen Tornado aufhalten, der eine ganze Stadt zu zentrifugieren droht, oder verhindern, dass ein blinder Bettler stolpert und in eine Grube fällt. Das Missverhältnis zwischen beiden Gefahren ist für jeden klar ersichtlich, für Supermann aber irrelevant, in moralischer Hinsicht sogar verwerflich, und dadurch, durch seine Sturheit, die ihn veranlasst, beidem den gleichen Wert beizumessen, gerät er in eine Position der Schwäche und ist jetzt für jeden feindlichen Angriff enorm verwundbar. Die andere dagegen ist eine organische, angeborene Schwäche, die einzige übrigens, die ihn mit seinen gerade vier Jahren zwingt, das Undenkbare schlechthin zu denken, dass nämlich der Mann aus Stahl sterben könnte. Damit dieser Fall eintritt, ist die Mitwirkung eines der beiden sogenannten Steine des Bösen unerlässlich, des grünen Kryptonits, das ihn schwächt, aber nicht tötet, und des roten, das allein imstande ist, ihn zu vernichten, beides Steine von seinem Heimatplaneten und gleichsam Mahnmale einer Verletzlichkeit, die ihn die vielleicht weniger aufreibende Welt der Menschen mit aller Macht vergessen lassen möchte.“ Das Buchcover zeigt den Helden der Geschichte als Sozialist im Superheldenkostüm. Und auch später solidarisiert er – der Wand an Wand mit einem militärischen Folterer wohnt – sich heroisch mit den Schwachen und Verfolgten, und dabei weint er gern und viel. Doch als er Jahre später den Putsch gegen Allende im Fernsehen verfolgt,versiegen ihm plötzlich die Tränen.

Und verwirrt hält er eine bitterböse Rückschau auf die kuriosen Stationen seiner politischen Prägung. Soweit einige Anmerkungen aus der Ankündigung im Katalog.
Auf diesem Blog: > Alan Pauls, Die Vergangenheit

Michael Zoellner erklärt, wieso wir die
> Geschichte der Tränen unbedingt lesen müssen:

»Mit Alan Pauls muss die lateinamerikanische Literaturgeschichte neu geschrieben werden.« Florian Borchmeyer, F.A.Z.

Alan Pauls
> Geschichte der Tränen
Roman, aus dem Spanischen von Christian Hansen (Orig.: Historia del llanto)
> Leseprobe
1. Aufl. 2010 – 143 Seiten – ISBN: 978-3-608-93710-7