Lesebericht: Die Briefe von Jean Améry

Jean Améry - BriefeGerade ist der 8. Band der Werke von Jean-Améry mit
> Ausgewählten Briefen von 1945 bis 1978 erschienen.

Keinen anderen Autor habe ich so oft im Radio gehört wie Jean Améry. Wie vertraut ist mir auch heute noch seine Stimme, die in den siebziger Jahren im Radio meist in der Sendereihe „Am Abend vorgestellt“ zu hören war. Über sein Judentum berichtete er, über Auschwitz, über die Folter und dann über die Jahre nach der Befreiung, als er sich durch das Schreiben eine neue Existenz aufgebaut hat. „Wie bitter nötig hätten wir heute Männer wie ihn …,“ sagte er über Lessing. Und später folgten seine vielen Essays über „Bücher aus der Jugend unseres Jahrhunderts“ und über amerikanische Autoren.

Der Band mit seinen Briefen an Maria Leitner, seine zweite Frau, an Freunde der dreißiger Jahre, Ernst Mayer und Erich Schmid, an Helmut Heißenbüttel, an Heinz Paeschke, an seinen Lektor Hubert Arbogast und viele andere gewährt einen beeindruckenden Einblick in seine essayistische Arbeit. Er nennt seinen Sorgen und reflektiert über die Wirkung seines Werkes. Seine ersten Briefe nach 1945 an Maria Leitner vermitteln einen ganz bewegenden Eindruck seiner Situation unmittelbar nach den „Jahren der Niedertracht“, wie er die gerade vergangenen Jahre noch in seinem letzten Brief an seine Frau kurz vor seinem Freitod nennt. Die Folter und die erlittenenen Gemeinheiten sind für alle, die solche Erfahrungen machen müssen, nie abschließend zu verarbeiten. Nahezu alle seiner Schriften lassen die Erinnerungen an diese Erlebnisse erkennen, denen er nur die Unabhängigkeit des Intellektuellen, des Essayisten und die Beschäftigung mit der Literatur entgegensetzen konnte.

Diese Briefe an vertraute Freunde, an Schriftsteller und seinen Lektor lesen sich wie ein Tagebuch – die Briefe seiner Adressaten sind in diesem Band nicht enthalten – mit dem er den intellektuellen Austausch mit ihnen und alle Themen seiner essayistischen Arbeit dokumentiert. Zwei Texte Der verlorene Brief (1976), Zwischen Vietnam und Israel (1967) sind Positionsbestimmungen, die die in Kapitel eingeteilte Briefsammlung vorzüglich ergänzen: „Der Brief zwingt uns zur Artikulation unserer Gedanken, die wir es bei Kleist heißt, beim Schreiben allmählich verfertigen,“ schreibt er 1976, „er gibt uns Gelegenheit zur Selbst-Konstituion.“ In diesem Sinn gehören die Briefe zu seinem Werk und das mildert ein wenig das immer so bekannte ungute Gefühl, wenn man einen Blick in die private Korrespondenz anderer werfen darf.

Die Briefe werden in diesem von Gerhard Scheid herausgegebenen Band durch die Biographischen Anmerkungen zu den Adressaten – S. 607-633 – im Anhang erschlossen.

Jean-Améry, > Werke bei Klett-Cotta