Der Roman eines der wichtigsten chinesischen Gegenwartsautoren, Li Er, > Koloratur berichtet die Geschichte von Ge Ren, einem Übersetzer, Schriftsteller, Kommunist und Volkshelden nach einander aus den Blickwinkeln von drei Erzählern. Dabei hilft das Personenverzeichnis und das Glossar, das Grundbegriffe zur chinesischen Geschichte im 20. Jahrhundert vor der Gründung der Volksrepublik erläutert. Im Englischen heißt der Titel des Buches Truth and Variations. Die eine Lesart ist also die Beachtung der historischen Umstände mittels des Glossars und der Personen deren Motive Handlungen in den drei Berichten unterschiedlich gewichtet werden. Die andere Lesart konzentriert sich auf die literarische Darstellung oder Untersuchung, wie Wahrheit rekonstruiert wird. Einmal heißt es in diesem Buch „In der Tat, ‚Wirklichkeit‘ ist ein illusorischer Begriff,“ (S. 400) und da Wahrheit und Wirklichkeit enge nebeneinanderstehen und das Beispiel der Zwiebel genannt wird, bei derem Schälen „Schicht für Schicht“ nichts mehr übrigbleibt, gibt auch das Wort „Wirklichkeit“ hier einen Hinweis auf die Bedeutung dieses Buches. Auf der gleichen Seite steht aber auch „Wie jeder, der viel liest, glaube ich irrtümlicherweise, dass ein Bericht, je detaillierter er ist, umso wahrer wird.“ Möglicherweise geht es also doch um die Wahrheitsfindung. Ein Gedicht, das nach dem Tod des Volkshelden in einer geänderten Version erscheint, erhärtet immer wieder die Vermutung, dass Ge Ren doch nicht tot sei. Alle drei Erzähler berichten, wie sie sich auf den Weg machen, um ihn zu finden. Das Treffen aller mit Ge Ren verläuft ganz unterschiedlich, hängt vielleicht auch ein wenig von den Interessen der Besucher ab.
Das Buch hat kein Inhaltsverzeichnis und Li Er lässt den Leser frei, wo er anfangen will: „Man kann dieses Buch im vorgegebenen Verlauf lesen, aber man kann auch mit der Lektüre des dritten Teils beginnen und anschließend zum ersten zurückkehren. Genauso gut könnte man zunächst einen Abschnitt des Hauptteils lesen, um danach zum ergänzenden Quellenmaterial am Schluss oder am Anfang des Buches überzugehen. Lieber Leser, es steht Ihnen auch frei, einen beliebigen Abschnitt aus dem dritten Teil des Buches bereits nach einer Passage des ersten Teils zu lesen. Zur Unterscheidung kennzeichnen unterschiedliche Schriften den Hauptteil und die ergänzenden Quellen. Auf die gängige Durchnummerierung habe ich ganz bewusst verzichtet. Die unterschiedlichen Schriften sollen den geneigten Leser stets daran erinnern, dass er die Geschichte auf seine Art begreifen und dieses Buch nach Belieben gliedern kann. Ge Rens Geschichte wird diese Erzählweise gerecht.“ (S. 5 f.)
Ist es ein politischer Roman? Die Art und Weise, wie Li Er mit den historischen Ereignissen umgeht und sie von den Protagonisten des Romans nennen und indirekt beurteilen lässt, ist bemerkenswert. Das ganze Buch will mit seinen konstruierten Belegen wie ein historischer Roman erscheinen, der auch tatsächlich präzise konstruiert worden ist. Dabei steht Ge Ren im Kontext des Buches für einen Volkshelden aber auch für ein Individuum oder eine erfundene Person. In diesem Sinne legt der Roman auch eine Interpretation der chinesischen Geschichte im 20. Jahrhundert vor der Gründung der Volksrepublik vor. Ge Ren „dieser blasse Studiosus“ nahm am „Langen Marsch“ von 1934/35 der fast 90.000 Soldaten 12.500 km weit nach Yan’an führte, und neun Zehntel das Leben kostete teil. Auf diese Weise werden Ereignisse der chinesischen Geschichte genannt, die auch das Verhältnis zwischen der Chinesischen Nationalpartei Kuomintag und der KPCh dargestellt. Bemerkenswert ist auch die Erzähltechnik Li Ers der der die Interpretation der damaligen Ereignisse mittels der Berichte der Erzähler in die Jahre 1970 und 2000 verlegt. Damit eröffnet er ihnen und seinem Buch Einblicke in das Verständnis der chinesischen Geschichte. Immer wieder korrigiert er geschickt mittels (erfundener) Quellen die Berichte der Augenzeugen. Mit der letzten Seite wird dem Leser dann auch deutlich, dass er einen mit diesem Buch einen Einblick in die Art und Weise erhält, wie heute in China mit der eigenen Geschichte umgegangen wird. Genug Stoff für Fragen an Li Er !
Bei der Buchmesse wird es eine Gelegenheit zu einem Gespräch mit Li er geben. Ich bin gespannt darauf. Seine Botschaft, die er nach Deutschland mitbringt, zitiert Petra Aldenrath in ihrem > Porträt Li Ers vom 1.10.2009: „Li Er: ‚In China findet zurzeit der radikalste Wandel der letzten 1000 Jahre statt. Es ist total radikal. Das China von vor zehn Jahren ist völlig anders als das China von heute. Egal ob im Norden, Osten, Süden oder Westen – China ändert sich überall, nur eben in einem unterschiedlichen Tempo.'“
Li Er wurde 1966 in China geboren. Er hat in Shanghai Sinologie studiert und lebt in Peking. 2004 erhielt er den „Großen Medienpreis für chinesischsprachige Literatur 2004 in der Kategorie Belletristi“. 2005 war er für den Mao Dun-Literaturpreis nominiert worden. 2007 erschien auf Deutsch bei dtv sein zweiter Roman »Der Granatapfelbaum, der Kirschen trägt«.
Li Er
> Koloratur. Roman
Aus dem Chinesischen von Thekla Chabbi (Orig.: Hufqiang)
380 Seiten
ISBN: 978-3-608-93794-7
Mit Michael Zöllner habe ich im Juli über > Koloratur gesprochen.