Lesebericht: Bernardine Evaristo, Mädchen, Frau etc.

 Bernardine Evaristo, Mädchen, Frau etc.Für > Mädchen, Frau etc., ihr achtes Buch, musste Bernardine Evaristo sich mit Margaret Atwood („Die Zeuginnen“) den Broker-Price 2019 teilen. Tanja Handels hat den bei Tropen erschienen Roman übersetzt, der schon in 33 Sprachen erschienen ist. Alles was unter Diversity zu verstehen ist, kommt in diesem Roman vor. Nicht nur Krimis sind superspannend, dieser Roman ist es auch, allein schon wegen seines so ungeheuer rapiden Schreibflussstils und der Fülle der Informationen, mit denen wir die Charaktere kennenlernen, wie sie sich und auch im Umgang mit ihren Romankolleginnen definieren.

Donnerstag, 25. Februar / 20 Uhr : > Bernardine Evaristo (live aus London) im Gespräch mit Jackie Thomae

Amma Bonsu ist die Hauptperson. Sie ist schwarz, lesbisch und Underground-Dramatikerin. Sie hat es geschafft. Ihr radikal feministisches Stück Die letzte Amazone von Dahomey wird am National Theatre in London Premiere haben. Auf dem Weg dorthin denkt sie über Freundin Dominique und alle anderen 12 Frauen nach, die im Hauptteil dieses Romans einzeln und zusammen vorgestellt werden, bevor sich alle bei der Premiere wieder zusammenfinden: „heute sind offene Beziehungen ihr Ding, oder heißt da jetzt Polyamorie? so nennt es Yazz (ihre Tochter, W.), aber so, wie es Amma sieht, entspricht das in allem ,bis auf den Namen, einer offenen Beziehung, mein liebes Kind.“ (S. 33)

In diesem Roman geht es um Herkunft und Leben von zwölf schwarzen Frauen: Women of Color aus England, Mütter und Töchter, die als Kolleginnen und Freundinnen mit Amma bekannt sind. Keine von ihnen fühlt sich unterdrückt, im Gegenteil sie treten selbstbewusst auf, viele von ihnen empfinden sich als queer:  > www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/das-queer-lexikon-was-bedeutet-queer/11702816.html.

Yazz, Ammas Tochter ist mit ihrem Afro-Look das ungebremste Selbstbewusstsein in Person. Total woke. Mit Courtney, ihrer weißen Kommilitonin diskutiert sie über „Brownies“ und klärt mit ihr das Verhältnis zwischen Weiß und Schwarz. Shirley, Ammas älteste Freundin, hat schon Yazz gehütet. Amma kennt Shirly seit sie 11 war und sie war das einzige andere dunkelhäutige Mädchne in ihrer Schule. Und da ist Mabel, die mit 30 hetero wurde, um sich neu zu erfinden. Lakshmi ist fast 60, Saxofonistin, und kommt zur Premiere wie auch Sylvester.Ammas Freundin, die Schwarze Dominique, Tochter einer afro-guyanischen Mutter, Cecilia, und eines indo-guyanischen Vaters, Wintey, ist in Nzinga, einer Afroamerikanerin, verliebt. Aber bald wird ihr alles zu viel, sie bricht aus, gibt die Beziehung mit Nzinga auf, flieht regelrecht.

Carole ist die Tochter von Bummi und hat zu nichts Lust, will am liebsten alles hinschmeißen, erlebt Party im Vollrausch, wird missbraucht, wacht dann aber doch auf einmal auf, rappelt sich hoch und macht an der Uni das Examen und gleich eine Karriere als Bankerin und heiratet in eine alte englische Familie.

LaTisha ist Caroles frühere Freundin, auch schwarz aber hetero. Drei Kinder hat sie von unterschiedlichen Männern. Ein großes Durcheinander, aber sie macht erfolgreich Karriere in einem Supermarkt.

Penelope entdeckt wie „rebellisch und feierlustig“ ihre Mutter einst gewesen war und dann erzählten ihre Eltern, dass sie aus einem Körbchen auf einer Kirchentreppenstufe stammt. Ihre Identität war hinüber und zum Glück erschien Giles, den sie später heiratet. Zu Hause wird ihr bald alles zu eng, sie sehnt sich nach eine Beruf, was Giles verhindern will. Es kam wie es kommen musste, im Krach wird sie von Giles verlassen. Philipp wir ihr zweiter Mann, aber auch diese Beziehung geht in die Brüche

Megan war zu gleichen Teilen Äthiopierin, Afroamerikanerin, Malawierin und Engländerin“, „bi-ethisch“ dachten die Anderen von ihr. An einem Samstagnachmittag traf sie Bibi. Im Café Nero am Bahnhof von Newcastle, eine „Mansplainerin“ (S. 366). Sie hat irgendwann genug vom Binären und sechs Jahre später empfindet oder definiert sich Morgan (vorher Megan) als „genderfrei“ und ist froh, „scheißfreundichen Egotripperin der Londoner Szene entkommen zu sein“ (S. 371) und steht auf „trans* Themen, Gender, Feminismus und Politik“ (S. 375).

Alle Charaktere erhalten ein eigenes Kapitel, treten aber auch in anderen Kapitel auf, so als sei oder weil da noch einiges im Dialog mit ihren Romankolleginnen zu klären und schärfen istt. Dabei wird sehr deutlich, dass einmal zugeschriebene Identitäten doch nicht ausreichen, im Gespräch mit den anderen ergeben sich neue Perspektiven und man lernt die Frauen noch besser kennen: „Jeder von uns hat vielfältige Identitäten, und sei es nur, weil er mehrere gesellschaftliche Zugehörigkeiten besitzt,“ so Alfred Grosser in : Le Mensch. Die Ethik der Identitäten, Bonn 2017, S. 7

In diesem Roman geht es um alles: Diversity in jeder Hinsicht. Evaristo spielt perfekt auf dieser Klaviatur: sexuelle und ethische Unterscheidungen und Zuschreibungen stehen ganz oben und verleihen den Charakteren ihre Identität. Der Begriff wokeness (https://www.nzz.ch/feuilleton/wokeness-gesteigerte-form-der-political-correctness-ld.1534531) fällt einem dabei ein. Intersektionalität – die Überschneidung verschiedener Diskriminierungskategorien – ist auch ein großes Thema in diesem Roman, in dem es genauso auch um race, gender, culture und auch um class geht. Wenn ihre Protagonistinnen über ihre soziale Einordnung nachdenken, merkt man, dass die genannten Zuschreibungen eine Distanz vermitteln, die auch als Kritik an diesen Einordnungen verstanden werden könnte, weil man den Eindruck bekommt, hier wird auch mal persifliert.

Punkte gibt es nur am Kapitelende, und genauso liest sich der Roman, ohne Punkt und ohne, nein einige Kommata gibt es. „Fusion fiction“ nent Evaristo ihren Stil. Und dieser Ausdruck trifft ihre wunderbare Schreibe sehr exakt: Machen sie die Probe, lesen Sie laut vor und Sie werden aber einige erstaunliche Entdeckungen machen, manchmal verfallen Sie dabei beinahe in einen Art Singsang; immer wieder zaubert Evaristo neue Satzfiguren hervor, rhetorisch ist das schon große Klasse. Sie lehrt nicht nur ihren Studenten Kreatives Schreiben an der Brunel University London sondern das auch Ihren Lesen. Beim lauten Lesen kann man sich besonders gut auf ihren u Bernardine Evaristo, Mädchen, Frau etc.ngebremsten Sprachduktus sofort einschwingen und spüren, wie Evaristo ihre Leser in die Geschichte mit hineinzieht.

Bernardine Evaristo
Mädchen, Frau etc.
Roman
Aus dem Englischen von Tanja Handels (Orig.: Girl, Woman, Other; Hamish Hamilton)
1. Aufl. 2021, ca. 512 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-50484-2