Lesebericht: Brigitte Kronauer, Favoriten.
Aufsätze zur Literatur

Wie gut, dass es dieses Blog gibt und dass letzte Woche das Paket von > Klett-Cotta angekommen ist. Ansonsten hätte ich in diesem Monat aller Wahrscheinlichkeit nach dieses wunderbare Buch
> Favoriten. Aufsätze zur Literatur nicht in die Hand bekommen. Und ich habe auch nicht vor, dieses Buch wieder herzugeben, denn viele der hier versammelten Beiträge möchte ich bald wieder noch einmal lesen.

Manche Bücher liest man an einem Tag. Besonders wenn sie dem Leser nur knapp 200 Seiten anbieten. Dieses hier schaffen Sie aber auch mit seinen 200 Seiten nicht an einem Tag. Zu vielfältig sind die Autoren und deren Werke, die Brigitte Kronauer hier vorstellt. Kaum ist ein Aufsatz zu Ende, möchte man am liebsten gleich in die nächste Buchhandlung oder in die nächste Bibliothek eilen und Kronauers Lesebericht am Original überprüfen. Sie regt zum Lesen und zum Vergleichen an. Das ist das Ergebnis dieser Aufsätze.

Und in mehreren ihrer Beiträge zu diesem Band erinnert sie an die Aufgaben der Literatur. So in ihrer Büchner-Preis-Rede: „…und wenn die Literatur auch oft Gegner der Gesellschaft und ihrer zeitgeistlichen Zumutungen sein muß, so stellt sie andererseits, halbparadox, den treuesten und streng fordernden Freund des Individuums dar. „(S. 85) Und in ihrer Laudatio auf Marie-Luise Scherer sagt sie über den Künstler: „Das Zerstören allgemeiner Vereinbarungen ist eine Art Notwehr des Künstlers, eine Schuldigkeit gegenüber der eigenen, als zutreffender empfundenen Weltwahrnehmung, bei Schriftstellern zugleich entscheidender Impetus für die Jagd nach dem berühmten mot juste.“ (S. 136) Und im Aufsatz über Mrs Dalloway von Virginia Woolf schreibt Brigitte Kronauer „…es gibt ja noch einen weiteren, geradezu biologischen Grund, sich mit Büchern zu befassen. Literatur durch dringt die starren Grenzen zwischen dem Ich und anderen Individuen. Sie berichtet uns, was in den Zeitgenossen eventuell geschieht, zeigt uns ein Innenleben, an das wir dem Anschein der Oberflächen nach oft nicht glauben können.“

Favoriten, Brigitte Kronauers Aufsätze zur Literatur enthalten viele Einladungen zu vielfältigen, spannenden und lehrreichen Reisen in die Literaturwelt. Außer den bereits genannten Autoren stellt Kronauer viele weitere Autoren vor: Joseph Conrad, William Faulkner, Hubert Fichte, Grimmelshausen, Knut Hamsun, Helmut Heißenbüttel, Eckhard Henscheid, Gerard Manley Hopkins, Victor Hugo, Herman Melville, Eduard Mörike, Hans Erich Nossack, Jean Paul, Wilhelm Raabe, Adalbert Stifter, Robert Walser, William Carlos Williams und Ror Wolf. Kronauers persönliche Vorlieben haben sicher bei der Auswahl eine große Rolle gespielt. Es sind meist keine ausführlichen Besprechungen. Oft werden mehrere Werke eines Autors mit anderen in eine Beziehung gebracht oder miteinander verglichen. Auch Gemeinsamkeiten der Autoren untereinander werden erwähnt und bieten Ansätze zu einer Literaturgeschichte, weil hier Entwicklungen, Gegensätze und Parallelen erkennbar werden. Was ein Architekt über Bauwerke sagt, man sieht nur, was man weiß, das gilt auch für die Literatur. Es genügt ein kleiner Stupfer, ein kleiner Lesehinweis, hier eine Seite über Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs, dort zwei, drei über Knut Hamsuns Hunger, dann die Seiten über Joseph Conrads Lord Jim lassen jede Bibliothek in einem anderen Licht erscheinen. Oder vielleicht steht ja doch der ein oder andere Roman vergessen im heimatlichen Bücherregal. Kronauers Leseberichte sind mehr als bloße Anregungen. Sie fordert uns auf, die von ihr erwähnten Werke zu lesen oder wieder zur Hand zu nehmen. Sie erwähnt getreu der eingangs von ihr zitierten Äußerung Johan Nagels aus Knut Hamsuns zweiten Roman Mysterien nur ganz kurz die Biographie der Autoren, gerade genug, um ihn nach seinen Lebensdaten und seiner Herkunft einordnen zu können. Gerade so viele Angaben, um wieder daran zu erinnern, dass literarische Werke nur schwer alleine mit der Biographie ihres Autors erklärt werden können.

Hand aufs Herz! Kennen Sie Herman Melvilles Versepos Clarel? Nach der Lektüre des Aufsatzes über Carel kennen Sie es noch nicht, aber Sie wissen, warum sie es lesen sollen: „… es steckt ja ein Stachel in dem Ganzen.“ (S. 46) So würde ich gerne hier jetzt nacheinander alle vorgestellten Werke erwähnen und den Schlüsselsatz aus jedem Aufsatz zitieren, der Sie zur Entscheidung bringen soll, das Buch zu lesen. Diese Sätze gibt es. In der Laudatio auf Helmut Heißenbüttel steht: „Daß Ungesagtes dann in schriftlich niedergelegten Bildern beschworen und eingeflüstert wird, gehört zu den Paradoxa des Schriftstellermetiers.“ Brigitte Kronauer schildert präzise und eindrucksvoll ihre Leseeindrücke und Leseerinnerungen. Sie reicht uns ihre Lesefrüchte. Und dann immer dieser wichtige Satz: „… seine Neugier und Leidenschaften gälten der Geburt von Babys und neuen Versen,“ der hier als Zitat von William Carlos William einen Hinweis auf seine Poetik enthält, der es nachzugehen lohnt. Robert Walsers Roman Jacob von der Gunten bekommt auch nur etwas mehr als eine Seite einschließlich des Satzes von Jacob: „Nichts ist mir angenehmer, als Menschen, die ich in mein Herz geschlossen habe, ein ganz falsches Bild von mir zu geben.“ (S. 102) Noch ein Kronauer-Satz mit Aufforderungscharakter zum Lesen? Über Hugos Die Arbeiter des Meeres schreibt sie: „Und doch ist Victor Hugo der letzte, der uns daran hindern würde, jemals zu vergessen, daß es sich um Literatur handelt, die uns hier packt und durchrüttelt mit Haut und Haar, Seele und Verstand.“ – Wenn ich ihr Lektor wäre, ich hätte eine sehr lange Liste mit vielen weiteren Autoren für sie, die sie zu unseren Favoriten machen müsste.

> Brigitte Kronauer
> Favoriten. Aufsätze zur Literatur
1. Aufl. 2010
200 Seiten
ISBN: 978-3-608-93899-9

Leseberichte und Gespräche auf diesem Blog:

> Festakt zum 350. Cotta-Jubiläum
> Nachgefragt: Brigitte Kronauer, Zwei schwarze Jäger
> Kann man Literatur photographieren? Brigitte Kronauer im Stuttgarter Literaturhaus
> Vorgelesen: Zwei schwarze Jäger
> Brigitte Kronauer auf dem Stand von Klett-Cotta
> Brigitte Kronauer: Errötende Mörder

Einige Blicke ins > Fotoarchiv des Stuttgarter Literaturhauses:

> Das gelobte Land der Dichter
Peter Kaeding, Montag, 23.11.09, 19.00 Uhr

> Zwei schwarze Jäger
Brigitte Kronauer, Donnerstag, 17.09.09, 20.00 Uhr

> Brotschrift – 25 Jahre Verlag Ulrich Keicher
Ulrich Keicher, Montag, 08.12.08, 20.00 Uhr

> Dri Chinisin – Comics & Literatur?
Brigitte Kronauer, Donnerstag, 03.04.08, 20.00 Uhr

> Amy Clampitt – Eisvogel
Amy Clampitt, Montag, 16.01.06, 20.00 Uhr

> Betrifft: Buchpremiere
Tankred Dorst, Freitag, 17.12.04, 20.00 Uhr

> Verlangen nach Musik und Gebirge
Brigitte Kronauer, Mittwoch, 08.12.04, 20.00 Uhr

> Vom Abklatsch in der Kunst
Brigitte Kronauer, Mittwoch, 22.09.04, 20.00 Uhr