Lesebericht, Elisabeth R. Hager, Fünf Tage im Mai

Die Erinnerung an vergangene Jahre und Jahrzehnte wird meistens von bestimmten Tagen strukturiert, die die eigene Biographie beeinflussen. Besondere Ereignisse verändern den gewohnten Lauf der Dinge, öffnen neue Perspektiven, und manchmal wird ihre Bedeutung erst im Nachhinein erkannt und verstanden. Ein Leben kann als eine chronologisch verfasste Biographie oder literarisch mit Höhepunkten, die wie Schlaglichter eine Existenz hervorheben, erzählt werden. Aber es gehören auch bestimmte Personen dazu, die das Leben anderer entscheidend prägen, die Vorbilder für sie sind oder die wie im Falle von Tat’ka, dem Fassbindermeister und Urgroßvater von Illy, eine ganze Epoche repräsentieren. Illy beobachtet seine Hände und einen Ski, den er bearbeitet hat: „An seiner Form erkannte ich, dass das Holz mit Tat’kas Händen einen Pakt eingegangen war.“ (S. 114)

Elisabeth R. Hager erzählt > Fünf Tage im Mai. Tat’ka kümmert sich um Illy, der während der Messe schlecht wird und sie sucht für ihn, wenn er seine Zähne vermisst. Und da sind auch die Erinnerungen an Kindertage, wenn Markus sich brüstet, er habe schon vier Vierklee gefunden, dann erklärt Illy ihm mit den Mitteln „psychologischer Kriegführung“ (S. 29): „Wenn man man mehr als vier findet, bringt das kein Glück mehr.“ Aber Illy kann gut beobachten und ihr fällt Markus‘ „unbändige Lust am Dramatischen“ auf.

> Nachgefragt: Elisabeth R. Hager, Fünf Tage im Mai – 28. März 2019

Das ist eine ganz eigenartige Geschichte, wie Tat’ka zu seinem großen Haus gekommen ist und die Angst, es wieder zu verlieren behalten hat. Als Illy ihren Atlas aufschlägt und eine entlegen Insel sucht, findet sie den Namen Tristan Unger, 2b, in IHREM Atlas.

10 Jahre vergehen.“In unserer kleinen Dorfgemeinschaft schleifte jeder eine Ahnenlinie hinter sich her, lang wie ein Kondensstreifen eines Flugzeugs.“ (S. 79) Jeder kennt jeden, jeder kann über jeden dauernd was Interessantes erzählen, sie alle erleben eine gemeinsame Geschichte. Tat’kas Geburtstag wird groß gefeiert, Illy hilft dabei und hat schon ihren Kopf voll von Tristan. Schließlich gibt Illy sich einen Ruck und erkundigt sich bei ihrer alten Lehrerin: Tristan Unger? An ihrer Reaktion spürt Illy schon, auf was sie sich da einlassen will und wird. Der Zufall regiert und Illy steht vor Tristan. Ihr Liebesleben findet  heimlich statt und der Ausgang wird Illys großer Kummer.

Der Leser erliegt schnell dem Charme dieser Erzählung und spürt die Vertrautheit und den Schutz, die Illy bei Tat’ka über die Jahre immer bei Tat’ka findet, der sie schon mal auf dem alten Motorrad ohne Zulassung mitnimmt und mit ihr über die Berge kurvt. Tat’ka: “ Du kannst niemand anders beschützen. Nit wirklich. Sicher du kannst’s probier’n, aber helfen tut’s nit. Für dich und dein Leben musst‘ verantwortlich sein! Das klingt nach keiner Heldentat, i weiß. Aber es is‘ eine. Die meisten schaffen nit einmal das. Für die hat immer jemand anders Schuld.“

> Fünf Tage im Mai enthält eine großartige Erzählung zentriert um das Aufwachsen, die Erinnerung und die verschiedene Netze sozialer Beziehungen. Die Gemeinschaft zu Hause, das Leben in der Familie und das Zusammensein mit Tat’ka wird indirekt mit der Clique verglichen, nach  der sich Illy so gesehnt hatte. Auch Jahre später übt das Elternhaus auf Illy große Anziehungskraft aus und die Reise nach Hause ist eine Reise in die Vergangenheit, obwohl Tat’ka an die Zukunft denkt: „I freu mich auf das, was kommt.“ (S. 92)

Reintei freintei.

Elisabeth R. Hager
> Fünf Tage im Mai
Roman
1. Aufl. 2019, 221 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-96264-2