Lesebericht: Hallgrímur Helgason, 60 Kilo Sonnenschein. Roman

Sehr oft, eigentlich fast immer, lesen wir zu Hause, die ersten Seiten eines neuen Romans laut vor, um wie damals Gustave Flaubert (1821-1880) das auch vor seinen Freunden tat > une épreuve du gueuloir, zu gucken, zu hören, ob der Text gut rollt. Z. B. so war das auch mit dem Roman von Brigitte Kronauer > Zwei schwarze Jäger, wo das Vorlesen erst auf der letzten Seite aufhörte. Ja, es ist auch eine Frage der Zeit, aber Iris Wolff, > Die Unschärfe der Welt haben wir auch fast ganz zu Hause laut gelesen.

> Nachgefragt: Halligrímur Helgason, 60 Kilo Sonnenschein. Roman

Nun ist am 14. Oktober 2020 von Hallgrímur Helgason, der Roman > 60 Kilo Sonnenschein erschienen. 567 Seiten, un grand pavé. Und was für einer. Und jetzt wenn dieser Lesebericht getippt wird, dann sind wir schon bei Seite 415. Kapitel 8: Die Frau des Pfarrers ***. Welch ein Lesevergnügen. Romane, die einen entführen und von den Erlebnissen einer Schicksalsgemeinschaft berichten, deren Mitglieder alle so unterschiedlich sind, die fruchtbare Schicksalsschläge erleben, dem Wüten der Naturgewalten trotzen müssen, die dennoch ihre unverwechselbaren Charaktere entwickeln, die dem Leser bei deren Auftauchen schon ahnen lässt, wie sich mit ihrer Anwesenheit die Geschichte weiterentwickeln wird, lässt ahnen, wie gut es Hallgrímur Helgason gelingt, Sie in diesen Roman hineinzuziehen. Machen Sie den Versuch, lesen Sie vor, vielleicht können auch Sie nicht aufhören: Noch ein Kapitel.

Nach der lauten Lektüre der ersten Kapitel, hieß es noch eins, und das nach allen weiteren Abenden und man kann sich des Eindrucks nicht verwehren, die Geschichte wird mit dem Einzug der Moderne in das Dorf am Fjord immer spannender. Ungläubig erleben die Dorfbewohner, wie der große Schoner mit seinen drei Masten Holz ablädt… eine Heringsverarbeitungsanlage soll gebaut werden. Zuerst wird aber die Armut der Bewohner zuweilen ziemlich drastisch geschildert. Gestur, das Waisenkind ist immer wieder dabei und er wächst förmlich in die beginnende Moderne des Fjords hinein. Aber auch die Naturgewalten können die Veränderungen nicht aufhalten. Und es sind einzelne Personen, die das Schicksal auserkoren hat, wie der Gemeindevorsteher Hafsteinn, der auf einmal weitreichende Entscheidungen treffen muss: „Noch einmal hatte der Gemeindevorsteher an der Grenze zweier Zeitalter gestanden, auf dem Boden der Anarchie, die entsteht, wenn eine Realität auf die andere trifft, und sie jeweils die Grenze der anderen nicht kennen, wo Geschäft und Gewerbe auf pure Subsistenz prallen, wo ein qualmender Schornstein in einer Wohnstube Platz nimmt….“ (S. 397) und die Verhandlung über die Zukunft beginnt.

Es sind die Bemerkungen, die die Ereignisse kommentieren, die eine Bewertung und einen Ausblick zugleich vorlegen: „Historische Ereignisse gehen meist langsam und schnell zugleich vor sich. Sie haben Vorzeichen, auf die niemand achtet und sie schwimmen untergetaucht, bis sie am richtigen Datum ihren historischen Kopf aus dem Wasser heben. Wenn man die Geschichte aus der Distanz betrachtet, wird erkennbar, dass kein bedeutendes Ereignis im Fluss der zeit vollkommen unsichtbar bleib, die Menschen wurden vorgewarnt, doppelt und dreifach, aber das ist vergraben und vergessen, wenn die historische Stunde schlägt. Dann trifft es alle unvorbereitet. Gelähmt vor Staunen stehen die Menschen vor dem Großereignis…“ (S. 415) Passagen, wie diese haben wir mehrmals gelesen… vorgelesen. Mit ihnen kommentiert der Autor die Ereignisse und verstärkt damit seine Stellung als beobachtender Zuschauer. Er nimmt uns mit zu diesem verlorenen Fjord, der erst von der Zivilisation so abgehängt schien, wo aber dann doch die ersten Indizien auftauchen, die die Zukunft ankündigen.

Noch nicht fertig.

Hallgrímur Helgason
60 Kilo Sonnenschein
Roman
Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig
(Sextíu kíló af sólskini, JPV Útgáfa)
1. Aufl. 2020, 576 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-50451-4

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