Lesebericht: Ines Geipel, Tochter des Diktators

Die Geschichte eines ganze Lebens, eigentlicher gleich mehrerer ganzer Leben, wird in > Tochter des Diktators auf nicht einmal 200 Seiten komprimiert. Das kleine toskanische Dorf Cigoli, mit gerade einmal 400 Seelen, bildet dabei das Epizentrum aus dem heraus die Erzählerin Anni ihre Fäden der Erinnerung spannt und nicht nur ihr eigenes Paradoxon, sondern jenes einer ganzen Generation erzählerisch zu entwirren sucht.

„Ich werde mich von nun an strikt an die Ereignisse halten und zusammentragen, was ich weiß. Denn es bringt ja nichts, die Wächterin einer Geschichte zu sein, die nur mir gehört. Das entspricht mir nicht. Man wird höchstens seltsam mit der Zeit.“ (S. 9)
Das Erzählen ist es, was Anni davon abhält, der Leere in ihrem Innern zu viel Raum zuzugestehen. Einem Raum, der mit den Erinnerungen an eine glückliche Kindheit und Jugend mit Ivano gefüllt ist. Ivano, dem Nachbarsjungen und Spross des im Dorf bekannten und angesehenen Kommunisten und Schusters Nello Matteoli. Der steht im Verdacht, an einem Bombenattentat in Cigoli beteiligt gewesen zu sein, dass den Tod eines jungen Mädchens zur Folge hatte. Von diesem Ereignis wird die Erinnerungskultur im Ort beherrscht: An ihm entspinnen sich alle Geschichten, die die Bewohner des kleinen Städtchens zusammenbringen, zusammenhalten und die das Leben hier fest in ihrem Griff haben.

Anni und Ivano finden den Weg hinaus aus Cigoli, hinaus in die Welt: Sie geht nach Paris und studiert Kunst an der Sorbonne; er nach Leningrad, ins Zentrum der Weltrevolution. Dort, so hofft er, ist er Teil eines Prozesses, eines Voranschreitens, eines Werdens. Doch während in Paris und anderen Teilen der Welt die Brände der Unruhen und Kämpfe der jungen Menschen gegen das Establishment aufflammen, erfährt Ivano in der Sowjetunion schnell die Zwänge des starren, auf Erhalt und Manifestation ausgerichteten Staatskommunismus, der mit seinem Idealbild nichts mehr zu tun hat. Nur wenige Worte auf kleinen Postkarten bleiben ihm, um sich Anni deutlich zu machen. Sie und einige wenige Besuche in der Heimat. Wie von einem Magneten gezogen finden sich beide immer wieder auf der Bank an der Kirche, oberhalb von Cigoli, wieder und teilen sich ihre Leben mit: „Dabei kommt es mir so vor, als ob unsere Worte auf einen gewissen Bestand aus wären. Auf Daten, Zahlen, Fakten, irgendwie was Reales, an dem sie sich festhalten könnten, falls die Dinge ins Rutschen kommen. Letzte Ankerpunkte oder auch Beschwichtigungsmanöver gegen die Leere, die offenbar sofort bereit ist, wie wild um sich zu schlagen.“ (S. 26)

Desillusioniert von der Realität seines Traumes findet Ivano Trost und Zuspruch bei Bea, der Tochter des DDR-Staatschefs Walter Ulbricht. Sie ist es, die ihm ein kleines Stück Geborgenheit und Normalität gibt, nach der er sich in der Ferne so sehnt. Doch die Beziehung steht unter keinem guten Stern, läuft sie doch den Plänen des Diktators entgegen. Für den Staatsmann sind der Aufbau des Sozialismus und Planungssicherheit wichtiger als Menschlichkeit. In dieser „Umstandslosigkeit“ wird Ivano und Bea zwar eine Heirat erlaubt, doch ist die Beziehung unter dem strengen Blick der Ulbrichts nicht von langer Dauer:
„[…] aber dann passierte etwas, was da nicht hingehörte. Mit einem Schlag war alles anders, und man erkannte nichts wieder von dem, was einem soeben noch völlig vertraut gewesen war. Darum ging es offenbar. Das man nichts wiedererkannte. Dass man sich nicht wiedererkannte. Mehr musste man nicht wissen dazu.“ (S. 85)

Ines Geipel, frühere Spitzenathletin der DDR und Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst in Berlin, legt mit > Tochter des Diktators einen sensiblen, aber gleichzeitig sehr emotionalen und packenden Roman vor, dessen Leitmotiv der unglücklichen Liebe die fein gesponnen Erzählfäden der Handlung zusammenfügt. Annis Liebe zu Ivano, Ivanos Liebe zu Bea, nicht zuletzt Beas Liebe zu den Ulbrichts, die sie als kleines Kind adoptierten. Sie alle leiden an Zurückweisung, an unerfüllter Hoffnung, an innerer Zerrissenheit. Ihre Geschichten werden durch Anni lebendig, die sich den historischen Figuren mit großer Vorsicht, aber auch mit dem durchdringenden Blick der auf Antworten hoffenden Chronistin nähert. Nicht alles erhellt sich im Licht der Erzählung; vieles bleibt unklar, muss unklar bleiben, da die Zeitzeugen schlicht fehlen oder ihre Subjektivität ein neutrales Bild der Ereignisse nicht gestatten.

Dennoch, so muss man abschließend sagen, ist dieser Roman ein wichtiger Versuch, sich der Komplexität eines ganzen Lebens, einer ganzen Weltepoche feinfühlig zu nähern und ihre Protagonisten von der Bühne der Idealisierung herunter zu holen. Um sie so dem Betrachter in Augenblicken der Menschlichkeit zu zeigen. Auch wenn diese Menschlichkeit häufig von äußeren Notwendigkeiten und Einflussnahmen durchdrungen ist.

Ines Geipel
> Tochter des Diktators
Roman
1. Aufl. 2017, 198 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98311-1