Lesebericht: Jörg Magenau, Die kanadische Nacht. Roman

 Jörg Magenau Die kanadische Nacht RomanGerade ist von Jörg Magenau, > Die kanadische Nacht . Roman bei Klett-Cotta erschienen.

Am Horizont sind die Rocky Mountains als graublauer Streifen zu erkennen und die Straße führt den Erzähler, der gerade sein Buchprojekt über die Malerin und den Dichter zurückgelassen hat, auf dem Highway 1 zu seinem Vater, der im Sterben liegt. Kommt der Sohn noch rechtzeitig an? Noch sechs Stunden liegen vor ihm. Zeit über das Verhältnis zu seinem Vater nachzudenken. Erinnerungen tauchen auf.

> Nachgefragt: Jörg Magenau, Die kanadische Nacht. Roman

> Literarischer Abend – 24. Februar 2021. Jörg Magenau, Die kanadische Nacht

„Schreiben heißt, mit der Vergangenheit aufzuräumen,“ (S. 23) so ist auch die Fahrt auf dem Highway 1 für den Sohn eine Gelegenheit,  Abstand zu A. in Tübingen zu gewinnen, über das Buchprojekt über den Dichter und die Mails von seinem Vater nachzudenken. Wie erinnerte sich dieser an die schwäbische Heimat?

Schon die vielen Besuche bei der Malerin und ihrem Insistieren darauf, dass er den Dichter würdigen sollte, hatten ihn irritiert… denn sie hatte ein so festgefügte Meinung von ihm, die der Erzähler irgendwie auch bewundert: „die Entschlossenheit, mit der er sein Künstlertum gewählt hatte, um diesen Traum ein Leben lang zu folgen… “ (das ist ja ganz ähnlich, wie bei den Künstlern, über die Jean-Paul Sartre geschrieben hat, sie haben sich ihre Situation, ihr Künstlerleben auch erwählt.)

„Jedes Erzählen ist ein Zurechtrücken,“ (S. 26)  Sätze wie diese sind ein Beleg dafür, wie schön dieses Buch geschrieben ist: „So spazierten sie durch die Straßen, als befänden sie sich in einem Theaterstück.“ (S. 27)

Und dann das Nachdenken darüber, wieso der Vater sich in die kanadische Wildnis zurückgezogen hat, war die Praxis in der Wohnung alles zu eng und zu dicht für ihn gewesen? Wie war das zu Hause? Strafpredigten waren wir ein ärztliches Bulletin, eine Verurteilung, der die Therapie als Strafe folgte. Trotz aller Kritik und Zurückhaltung, spürt man doch, wie der Erzähler an seinem Vater hängt und die große Entfernung zwischen ihm und sich bedauert und zugleich auch ein wenig fürchtet: „Mit fünfzig merkte ich, wie die Eltern präsent geblieben sind…“ (S. 42) und „Meine Herkunft werde ich  nicht los, weil sie mich ausmacht, egal wo ich hinfahre.“ (ib.) – Unsere Leser dürfen hier  spüren, dass ich jetzt gleich gerne einige Seiten aus diesem Buch vorlesen möchte.

Es gibt in diesem Roman, den wir auch gerne als Novelle bezeichnen würden, viele kluge Bemerkungen über Künstler, wie schon eingangs bemerkt haben über die Malerin und ihre Erinnerungen an den Dichter, über den der Erzähler schon seit zwei Jahre schreiben will oder soll: „Dass sie Philosophie nicht einfach als Beruf betreibt, sondern leibt und lebt, hat sie für mich von Anfang an zu einer Art Künstlerin werden lassen, die an der Intensivierung des Daseins durch Denken arbeitet.“ (S. 47) Also darum geht es hier. Und die Kunst und die Künstler und deren Sicht auf die Welt.

Das Nachdenken über die Kunst und ihre Wirkungen und Möglichkeiten wechselt mit den Eindrücken der Reise durch die kanadische Wildnis ab. Der Erzähler erinnert sich daran, dass auch in kontaktarmen Zeiten sein Vater präsenter war, als er es immer gleich ahnte. Die Scheidung der Eltern, die Stiefmutter…

So wie die Malerin den Nachlass des Dichters verwaltet, „indem sie ihn am Leben erhielt“, ein fast geschöntes, idealisiertes Bild von ihrem einstigen Gefährten. Es geht um „erinnerndes Verdrängen…“: „Das, was in diesem Grenzbezirk entsteht, nennen wir dann Geschichte.“ (S. 95).

Die kanadische Nacht enthält nicht nur Bemerkungen über Künstler, das Nachdenken des Erzählers wird zu einer Poetik: „Vom Dichter lässt sich lernen, dass die Veränderungskraft einer programmatischen Freundlichkeit viel größer ist als das Kultivieren schlechter Laune, bloß weil man glaubt, in einer schlechten, falsch gemachten Welt zu leben.“ (S. 101) Und er erinnert sich auch an seine Tante, die Deutschlehrerin, deren „Irrtum … bestand darin, im Kunstwerk einen festen Bedeutungskern zu vermuten, der sich herausoperieren ließe, eine hineingepflanzte Intuition des Schriftsteller als das was er eigentlich sagen wollte.“ (S. 102) Hier wird in einem Satz auf die Diskussion zwischen Werkbiographismus und der Rezeptionsästhetik als zwei entgegengesetzte Literaturtheorien verwiesen.

Der Vater schickt immer wieder Fotos: der Bilder, die die Stiefmutter in ihrem Malkurs anfertigte. Aber dadurch werden die Erinnerungen des Erzählers an die eigene Mutter verstärkt und er sinnt darüber nach, ob das Verhältnis zwischen seinen Eltern zum Bruch der eigenen Ehe geführt habe. Es klingt alles so, als wenn es nur durch das Schrieben zu bewältigen sei: „Ein Ich, das sich in die Figur eines Textes verwandelt ist bereits etwas Anderes, Interessanteres geworden.“(S. 176)

Biographische Bezüge mögen in dieser Novelle Pate gestanden haben, darum geht es aber nicht: Jörg Magenau hat ein wunderbares Buch über die Tragweite der Kunst und der Poetik geschrieben und sie anhand von Schicksalen und deren Beziehungen untereinander so spannend illustriert.

Jörg Magenau
> Die kanadische Nacht
Roman
1. Aufl. 2021, 200 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98403-3