Auch ohne die Absicht, einen Lesebericht über dieses Buch schreiben zu wollen, hätte ich es in einem Zug durchgelesen. Trotz mancher tages- und umständebedingter Störungen, war es eine spannende Lektüre an einem Stück. Friedrich Georg Jünger (1898-1977) und Ernst Jünger (1895-1998) hatten beide als Brüder und Schriftsteller zusammen fast ein Jahrhundert deutscher Geschichte, ein Kaiserreich, eine Weltkrieg, eine Republik und ihr Scheitern, die nationalsozialistische Diktatur mit einem erneuten Weltkrieg und wieder eine Republik miterlebt: > Brüder unterm Sternenzelt. Friedrich Georg und Ernst Jünger. Wichtigste Quelle für den Autor dieses Buches ist der noch unveröffentlichte Briefwechsel zwischen beiden Brüder, den sie 1913 begannen und der 1977 endete. Jörg Magenau hat ihre Doppelbiographie verfasst. Martin Walser hat dieses Buch so resümiert: „Jörg Magenau hat zwei von Argumentengier zerschlissene Figuren befreit, rein erzählerisch! Das ist angesichts des literaturhistorischen Tatbestandes sensationell.“
1907 kauft ihr Vater die Villa in Rehburg. Viele Bücher lasen die beiden Brüder zusammen. Zu Weihnachten bekamen die Söhne Fleischers Der Käferfreund. Die lebenslange Passion besonders von Ernst Jünger, Käfer zu sammeln, begann zusammen mit seinem Bruder rund um das Steinhuder Meer. 1910 zeigte ihr Vater ihnen den Halleyschen Kometen, den Ernst 1986 noch einmal sehen sollte: „Brüder unterm Sternenzelt“. Der Ausreise Ernst wird nach seinem Eintritt in die Fremdenlegion und einem Aufenthalt in Marokko mit Hilfe des Vaters heimgeholt. Am 1. August beginnt der Krieg und Ernst Jünger profitiert davon, macht schnell das Notabitur und fängt schon im Oktober seine Grundausbildung an. Magenau über den Leutnant Jünger: „Er war jung und naiv genug, den Krieg für einen großen Abenteuerroman zu halten, der ihm Gelegenheit bot, sich zu erproben und das Leben zu riskieren…“ (S. 46) (Vgl. > Nachgefragt: Ernst Jünger, Kriegstagebuch 1914-1918 auf diesem Blog)Wieder treffen die Brüder auch an der Front in Frankreich zusammen. Friedrich Georg wird verwundet und über ihn und seinen Bruder im Stellungskampf notiert Magenau: „So sehr Ernst hier zu Hause war und im Element des Feuers atmete wie ein Fisch im Wasser, so hilflos irrte Fritz darin umher.“ (S. 52) „…das Schlimmste am Krieg? ‚Das wir ihn verloren haben.'“ So soll Ernst Jünger bis ins hohe Alter geantwortet haben.
Friedrich Georg kann „seinen Unmut über die fortschreitende Demokratisierung nicht verbergen…“ (S. 70 f) Ernst war nicht weniger besorgt: Der Zerfall des Militärs und aller „Verlässlichkeit“ würde den „demokratischen Missständen“ (S. 72) geschuldet werden. Friedrich Georg studiert Jura und macht sein Referendariat in Meißen. Sein Bruder war mit seinem Buch In Stahlgewittern seit 1920 bekannt geworden, und er „verkehrte in militärischen Kreisen, in denen die Bezeichnung ‚Literat‘ als Schimpfwort galt.“ (S. 87) Magenau ist es gelungen, eine Doppel- oder Parallelbiographie zu verfassen, die vor dem gemeinsamen familiären und historischen Hintergrund, die unterschiedlichen Entwicklungen der beiden Brüder und ihre Gemeinsamkeiten hervortreten lässt. Mit großer Deutlichkeit beschreibt er die zunehmende Radikalisierung Friedrich Georgs, der die Diktatur kommen sieht. (vgl. S. 89) Die Abschrift seiner Briefe nach dem Zweiten Weltkrieg tilgt in ihnen den „flackernden Fanal für eine militärische Diktatur“. (S. 89) Magenau zitiert auch Friedrich Georgs erste Veröffentlichung Der Aufmarsch des Nationalismus (1926) und sein Urteil ist eindeutig: „Alles was diese paranoide, dröhnende Schrift enthielt, fügt sich bruchlos in die Propaganda der Nationalsozialisten ein.“ (S. 99) Zu dieser Zeit entstand auch seine Technikskepsis, die später in den Essay „Die Perfektion der Technik“ münden sollte, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg erscheint.
Magenau hat keine Hagiographie der beiden Brüder verfasst. Ohne jeden Versuch der Beschönigung beschreibt er ideologische Verirrungen, aber er versucht auch sie zu interpretieren. Friedrich Georg „steigerte … sich in seinen nationalistischen Vernichtungswahn hinein und verwandelte sich auf dem Papier in einen schäumenden Hassprediger, der den Menschen am liebsten ‚ein Gift zu fressen geben‘ würde, ‚um ihnen die demokratischen Würmer abzutreiben‘.“ (S. 112) Derartige Gedanken wie auch die „Volksgesundheit“ will Magenau lediglich als Metaphern für die Zeit gebräuchlich verstehen: „Erst die Nationalsozialisten nahmen sie wörtlich und begründeten damit ihre antisemitische, rassistische Erblehre.“ (S. 112) Beurteilungen wie diese bilden die Grundlage, für die Entscheidung Magenaus, sich auf die Seite der Brüder zu stellen, so wie anlässlich der von Goebbels proklamierten „‚totalen Mobilmachung'“, die nicht mit „Jüngers Intention“ (S. 137) korrespondierte „- aber doch den vorausgeahnten und beschworenen Möglichkeiten.“ War es nur folgerichtig, dass Ernst Jünger, seine Bücher einer „gründliche(n) Revision unterzog, „um nicht mit den Nationalsozialisten verwechselt zu werden“?(S. 144)
Magenaus Biographie beeindruckt durch die Fähigkeit ihres Autors, sich in die Gedanken besonders Ernst Jüngers hineinzuversetzen: Kapitel 14 „(Feuer, Wasser, Erde, Luft) Wilflingen 1996“ mit der Konversion Jüngers zum Katholizismus ist dafür ein Beispiel.
Ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus erklärt Magenau so „Gemeinsam befanden sie sich in Gegnerschaft zu Hitler, aber wie Ernst das im Rückblick formulierte: nicht auf der politischen Ebene. Sie befanden sich in einer anderen Dimension. Deshalb hielten sie sich auch für unerreichbar, und die hatten das Glück, dass diese Illusion nicht zerstört wurde.“ (S. 174)
Im Sommer 1943 entstand „nach einigen früheren Vorarbeiten“ eine „Friedensschrift“ mit dem Konzept für ein Europa nach dem Weltkrieg. Magenau hält diese Schrift für einen „seltsame(n) Wechselbalg, der die widerspruchsvolle Position oppositioneller Repräsentanten der deutschen Wehrmacht verdeutlicht,“ (S. 203) und der Biograph urteilt: „Die Friedensschrift in all ihrer Problematik ist so etwas wie die inoffizielle Verfassung des ’20. Juli'“. (S. 207) Dieses Kapitel 17 „(Feuer) Paris 1943/44“ gehört zu den zentralen Abschnitten dieses Buches. Speidel soll den Text der Friedensschrift gelesen haben und ihn an Rommel weitergegeben haben. Zugleich bemerkt Magenau, Jünger soll von Umsturzplänen gewusst haben, aber in das Attentat vom 20. Juli nicht konkret eingebunden gewesen sein. (vgl. ib.)
Nach dem Krieg wohnte Ernst in Karlshorst bevor er nach Ravensburg umzog um 1950 nochmal, diesmal nach Wilfingen umzieht, während Friedrich Georg zunächst in Überlingen wohnte. Mit einzelnen Episoden wie das Seegfrörne 1963, das den Bodensee zum ersten Mal seit 1880 vollständig zufrieren ließ, den Berichten von Reisen wie nach Rom – fünf Jahre vor dem Tod des Bruders – präzisiert Magenau die Haltung Ernst Jüngers gegenüber der Geschichte und seiner Zeitgeschichte: „In der Bundesrepublik war er so wenig heimisch geworden wie zuvor im ‚Dritten Reich‘ und davor in der Weimarer Republik. Einer, der unter den Sternen lebt und sich an ihren Bahnen orientiert, kann in keinem Staate heimisch sein.“ (S. 293)
Jörg Magenau liefert mit seiner Biographie auf der Grundlage einer beeindruckenden Kenntnis ihrer Werke aufschlussreiche Einblicke in das Verhältnis der beiden Brüder, er zeigt und analysiert ihre Reaktionen auf die Ereignisse der Zeitgeschichte, deren Augenzeuge sie ganz unmittelbar waren, er erläutert ihre Visionen, Unterschiede in ihren Einschätzungen und versucht, den Weg nachzuzeichnen, auf dem sie beide zum Teil unabhängig voneinander und gemeinsam ihre Werke im Dialog miteinander entwickelten.
> Jörg Magenau
> Brüder unterm Sternenzelt. Friedrich Georg und Ernst Jünger
1. Aufl. 2012, 320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 8 Seiten Tafelteil s/w
ISBN: 978-3-608-93844-9
> Klett-Cotta-Autoren auf der Frankfurter Buchmesse 2012 Halle 3.1, Stand D 175
ARD Forum F.0 im gläsernen Hörfunkstudio der ARD
Auf der Buchmesse 2012: Termine am Sonntag, 14. Oktober 2012
12:00-13:00 WDR 3/ Gutenbergs Welt live
Gäste: Gäste: Arezu Weitholz „Wenn die Nacht am stillsten ist“, Stephanie Gleißner „Einen solchen Himml im Kopf“, Marjana Gaponeko „Wer ist Martha?“ und Jörg Magenau „Brüder unterm Sternenzelt“. Moderation: Manuela Reichart