Lesebericht: Kai Wieland, Amerika

Kai Wieland hat mit dem Buch > Amerika einen bemerkenswerten Roman vorgelegt.

> Nachgefragt: Kai Wieland, Amerika

Der Erzählstil. Immer wieder gelingt es dem Autor, in wenigen Sätzen, frühere Epochen und Entwicklungen (das Dorf, S. 7,  Kriegsende, S. 74 ff, Schattenbach und Mangelhardt, S. 114 ff) des Dorfes Rillingsbach plastisch vorzuführen. Nacheinander lässt der Chronist unter seiner Feder aufgrund der Erinnerungen der Kneipenbesucher alte Geschichten wiederauferstehen, verdrängte Geschichten, die aber die heutigen Verhältnisse in Rillingsbach erklären. Und der Chronist hat sich dafür entschieden, mit den teils parallel verlaufenden Geschichten Episoden zu schaffen, die nacheinander erzählt werden:  Der Schippen,  Erwin und Elisabeth, Hilde, die Entnazifizierung der Dorfbibliothek, Alfred und Erna in Amerika, u. a.

Es gibt in diesem Roman eine Hauptperson (unter mehreren), das ist zunächst einmal der Chronist als Zuhörer, Gesprächspartner und Erzähler. Mit diesem Kunstgriff richtet der Autor zwischen (sich) dem Erzähler und den Dorfbewohnern eine gewisse Distanz ein, in dem er sich die Möglichkeit schafft, die Reaktionen des Chronisten zu erzählen und dadurch auch zu bewerten. Der Chronist ist es, der die Bewohner und Besucher der Wirtschaft im alten Schippen zu Sprechen bringt. Die meisten zögern, aber als die einen anfangen, wollen die anderen nicht nachstehen und berichten ihrerseits, korrigieren, ergänzen und erzählen neue Geschichten. Es sind die Verhältnisse unter den Dorfbewohnern, ihre Historie, ihre Erinnerungen sowie nicht ausgeheilte seelische Verletzungen, die sich zum Sprechen und zum Widerspruch bringen. Daran hat der Chronist seinen geschickten Anteil. Dabei scheut er sich durchaus nicht vor schwierigen Situationen, besonders wenn es um nicht ganz aufgeklärte Todesfälle geht. Diejenigen die mehr wissen als die andren, verraten sich irgendwann, platzen förmlich, um die anderen hinter sich zu lassen.

Amerika? Weil Erna Alfred nach Amerika folgen musste, der dort die Stätten aufsuchte, wo Martin Luther King oder John F. Kennedy ermordet wurden? Oder weil die Amerikaner, das Dorf endgültig vom Nazispuk befreiten? Die große weite Welt als Gegensatz zu den beiden kleinen und kurzen Straßen in Rillingsbach, das etwas am Rande der Welt im Schatten von Murrhardt existiert?

Die Qualität von Romanen definiert sich über ihren Stil aber auch über das Verhältnis von erzählten Passagen und den Äußerungen der Protagonisten. In der Tat sind es die Beschreibungen, mit denen es dem Autor gelingt, den Gang seiner Erzählung spannend zu gestalten. Die Beschreibung  des Dorfes Rillingsbach und dann Martha mit ihrem Schippen und seiner Geschichte (er erinnert an Balzacs Roman Le Père Goriot (1834/35), in dem die Pension von Mme Vauquer beschrieben wird:  „… toute sa personne explique la pension, comme la pension implique sa personne,“) belegen, dass der Autor erzählen kann, deshalb hat auch die >Maulprobe (1) nach dem Öffnen des Buches so gut funktioniert. Es gibt viele weitere Beispiel dazu in diesem Roman – ich bin gespannt, welche Passagen der Autor bei seinen Lesungen auswählen wird.

Die Vergangenheit Rillingsbachs in der Zeit des Nationalsozialismus kommt langsam ans Licht und wird mit der Säuberung der Dorfbibliothek abgeschlossen. Es gibt aber auch Figuren, die dieser Vergangenheit nachträumen, sie nicht ganz loswerden können. Der Chronist bleibt aber auch diskret („mit dem gebotenen Respekt“ S. 67), fragt nicht zu offensiv nach, sondern setzt das Mittel des Zuhörens bewusst ein und kann darauf vertrauen, dass, nennen wir es das soziale Miteinander, die Zuhörer in der Runde, weil sie ihr Wissen dann doch vorweisen möchten, zum Reden bringt. Andere korrigieren wieder – „‚Blödsinn‘, erwidert Hilde, aber ohne Nachdruck…“ S. 29 – und so kann sich der Chronist allmählich ein Bild machen.

Die Erinnerung. Die Zitate, die den Kapiteln vorangestellt sind, geben zu erkennen, dass der Autor die Kapitel seines Buches auch verschiedenen Formen oder Implikationen der Erinnerung zugewiesen hat. Es geht keineswegs nur um die bloße Evozierung der Vergangenheit, es wird zugleich auch immer eine Form der Interpretation mitgeliefert, durch die allmählich die Figuren vervollständigt werden. Das ist geschickt gemacht und trägt zum Spannungsaufbau in diesem Roman wesentlich bei.

> Auf der Shortlist des Blogbuster-Preises : Kai Wieland

1 Die Maulprobe , mit der > Gustave Flaubert es vor seinen Freunden vorlas, um zu hören, ob der Satz gut klingt, ob die Prosa gut rollt,

Kai Wieland
> Amerika
Roman
1. Aufl. 2018, 240 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-96261-1