Lesebericht: Kai Wieland, Zeit der Wildschweine. Roman

Kai Wieland, Zeit der Wildschweine. RomanNatürlich fragen wir Kai Wieland, warum die Wildschweine als Namenspaten für den Titel seines neuen Romans dienen. Die Worte des Titels sollen eigentlich in knapper Form sagen, worum es geht. Sicher, die Wildschweine sind mit dabei, auch wenn sie nicht die Erzählung dominieren, so gehören sie doch  dazu.

Leon will wirklich mal was erleben. Als Reisejournalist ist er es gewohnt, Neues zu entdecken, sich treiben zu lassen, bestrebt, seine Erfahrungen in Texte zu kleiden und andere zum Reisen zu animieren. Mit der Familie, seinem Vater und Jana seiner Schwester, die immer Henry vor dem Bauch trägt und dabei ständig diese bekannten Zappelbewegungen macht und von ihren Söhnen Torben und Ben begleitet wird,  kann er wenig anfangen. Muss man sein Selbstbild dauernd hinterfragen?

Da taucht in der Kampfsportschule Janko auf. Ein Fotograf, eher verschlossen, man weiß nicht so recht. Leons Chef Marc läutet bei ihm an und will wissen, ob sein Reiseautor etwas von Lost places weiß. Was wissen Sie als Leser darüber? Das ist eine pfiffige Idee, Verlorene Orte als Schauplätze in diesen Roman aufzunehmen, weil sich daraus spannende Erzählkonstallationen in Hinsicht auf Zeit, Ort, vergessen und Erinnerung ergeben. Unsere Gegenwart, in der wir diese Orte wieder durchschreiten, erwecken sie für ein paar Stunden zum Leben.

Leon folgt dem Vorschlag, mit Janko Niemandsorte in Nordfrankreich zu erkunden. Die Reise wird zu einer strengen Prüfung, denn Leon weiß kaum, was Janko im Schilde führt. Was möchte er wirklich sehen?  Leon kann mit seiner Art, sich in ein Motiv hineinzuversenken, nicht so richtig was anfangen: „Du bist nicht mein Job,“ (S. 15) bekommt Janko von  Leon zu hören.

Jankos Kamera saugt die Locations in sich auf: Als Kind war ich mir sicher, dass es eine Art Lichttransfer zwischen Welt und Kamera geben muss, wenn jemand auf den Auslöser drückt“ (S. 57) und fügt hinzu „Das Licht verschwindet in meinem Apparat…“

Die Familiengeschichte? Das Verhältnis zum Vater, zu Jana, sein Reiseberuf… Leon weiß nicht so recht, worüber er sich eigentlich definiert. Seine Reise mit Janko, die gedanklichen Besuche beim Vater oder der Schwester verweben die Familiengeschichte und seine beruflichen Ausflüge miteinander und – wir sind auf der Bedeutungssuche des Titels – die Wildschweine, die immer wieder an Gelenkstellen der Geschichte auftauchen, so als wenn sie der Geschichte ein Struktur verleihen würden. Kompliziert wird es, wenn auf der Suche nach einem Lost Place, Seibold, der Nachbar, ihnen plötzlich im Weg steht.

Manchmal denkt Leon auf seiner Reise an den Vater und Jana. Die Wohnung solle er mit dem Vater tauschen. Leon bekommt das Haus auf dem Land und sein Vater zieht in seine Stadtwohnung. Beim Hören dieser Idee, fand er das total abwegig. Wieder zu Hause ruft er ohne viel zu überlegen seinen Vater an und sagt der Deal ist OK. Jetzt kommen der Garten, die Gewohnheiten des Vaters und der alles beobachtende Nachbar Seibold noch dichter an Leon heran.

Es geht ins Nord-Pas-de-de-Calais. Saroncourt. Nicht suchen. Den Ort finden Sie nicht: aber Janko  fotografiert. Kai Wieland: „Eine ganze Serie von Alptraumbildern verschwand ratternd in seiner Apparatur, um an anderer Stelle und zu einem anderen Zeitpunkt wieder auf Hochglanzpapier zu erschienen.“ (S. 85) und das Eindringen in die alten Häuser des Dorfes erinnert daran, wie Leon das eigene vom Vater überlassene Haus auf der Reise in seine Kindheit wiederentdeckt: „Reisezeit“, so könnte der Titel lauten, aber der Roman hat nun mal den Titel Zeit der Wildschweine.  Der Fotograf pflegt seine Oberflächen und Leon nimmt sich Zeit zum Schreiben. So wie ihre Charaktere und Gemüter divergieren, unterscheiden sich ihre beruflichen Aufgaben.

Jankos Leidenschaft lässt ihn viele Bilder sammeln, Leon begnügt sich mit dem Speichern von Worten: „Wer hat überhaupt gesagt,“ murmelte er nach einer langen Kunstpause plötzlich, „dass wir beide Künstler sind.“ (S. 106) Janko ist doch nicht so wortkarg. Sie sprechen von Kriegsfotografen-Veteranen: „Vereinfacht ausgedrückt hatte Jankos verwitterte Herkunft, gleichwohl er sich gegen ihr Aufbrechen sperrte, Assoziationen in mir geweckt, wie es sonst nur vergilbte Fotografien taten…“ (S. 127) Titelsuche: „Leon und Janka“ wäre auch gut gewesen, denn die beiden werden in diesem Roman durch ihre Worte und ihre Handlungen wie durch die Beschreibungen des Erzählers so erstaunlich präzise gezeichnet.

Lehnen sie sich zurück und lassen sich von Kai Wieland eine Geschichte erzählen. Die Suche nach verlorenen Plätzen und Erinnerungen und immer wieder kurze Momente, in denen Leon an seine Mutter denkt. Und dann erscheint auch Zahra, die in ihrem Volvo lebt. Leon trifft sich mit, reist ihr hinterher, fängt an, sich nach ihr zu sehnen, sie kommen aber nicht zusammen: Leon setzt alles auf eine Karte: „Willst Du mit mir ins Hotel?“ (S. 149) In Nortzeel finden sie die alte aufgegeben Buchhandlung, deren Inhaber der Vater von Zohra gewesen war. Wieder ein Spaziergang durch die Vergangenheit, der heute stattfindet.

Kai Wieland
> Zeit der Wildschweine
Roman
1. Aufl. 2020, 271 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98225-1

> Lesebericht: Kai Wieland, Amerika

> Nachgefragt: Kai Wieland, Amerika

„Der Erzählstil. Immer wieder gelingt es dem Autor, in wenigen Sätzen, frühere Epochen und Entwicklungen (das Dorf, S. 7,  Kriegsende, S. 74 ff, Schattenbach und Mangelhardt, S. 114 ff) des Dorfes Rillingsbach plastisch vorzuführen. Nacheinander lässt der Chronist unter seiner Feder aufgrund der Erinnerungen der Kneipenbesucher alte Geschichten wiederauferstehen, verdrängte Geschichten, die aber die heutigen Verhältnisse in Rillingsbach erklären. Und der Chronist hat sich dafür entschieden, mit den teils parallel verlaufenden Geschichten Episoden zu schaffen, die nacheinander erzählt werden:  Der Schippen,  Erwin und Elisabeth, Hilde, die Entnazifizierung der Dorfbibliothek, Alfred und Erna in Amerika, u. a….“

Kai Wieland
> Amerika
Roman
1. Aufl. 2018, 240 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-96261-1