Elisabeth, die Tochter des Schmieds, sehnt sich danach, ihrem Heimatdorf Woesten zu entkommen. Sie versucht, sich Bildung anzueignen und heiratet den jungen Arzt Guillaume Duponselle. Als kurz darauf Zwillinge zur Welt kommen, ist der Zweitgeborene so entstellt, dass der Vater sich weigert, ihm einen Namen zu geben. Doch Namenlos überlebt, wird verachtet und weiß durch seine Beobachtungsgabe über alle mehr, als sie über sich selbst.
In dem belgischen Dörfchen Woesten, in der Nähe von Ypern, erwarten die Duponselles Zwillinge. Valentijn kommt gesund und munter zur Welt, aber sein Bruder hat ein verunstaltetes Gesicht. Einen Namen bekommt er nicht, man nennt ihn Namenlos. Valentijn kommt überall gut an, aber Namenlos wird von allen geschnitten, er versteht sehr wohl, dass sein eigener Vater ihn möglichst nicht sehen will. Der Erste Weltkrieg verändert in Woesten alles. Elisabeth wird ermordet und dieses Ereignis macht Van Steenberges Roman zu einem spannenden Krimi. Falsche Verdächtigungen aufgrund des Dorfflurfunks zerstören Existenzen, und nur weil der Autor die Protagonisten reihum aus über die Jahre hinweg aus ihrer Perspektive erzählen lässt, kommt allmählich die Wahrheit ans Licht. Die Wahrheit kommt immer irgendwann ans Licht.
Kris Van Steenberge ist es gelungen, einen ungemein fesselnden Roman zu verfassen. Elisabeth würde gerne ihr Dorf verlassen. Bei einem Diner lernt sie den jungen Arzt Guillaume Duponselle kennen. Er fasziniert sei: „Er erzählte von Brüssel und Lüttich, wo er Praxiserfahrung bei bekannten Ärzten erworben hatte. Er erzählte ihr, wie genial der menschliche Körper eigentlich sei und wie die neuesten Untersuchungsmethoden die Welt der Medizin grundlegend verändern werden.“ S. 53. Elisabeth spürt die große weite Welt und glaubt, dass Guillaume ihr helfen wird, ihrer Welt zu entkommen, dabei ahnt sie nicht, dass er sie mehr brauchen würde, als sie ihn. Als er noch Student war: „Alle kannten ihn. Aber niemand wusste, wer er war.“ S. 127 Das weiß sie aber noch nicht, jedenfalls will sie sich diese Chance jetzt nicht entgehen lassen. Alles weiß sie nicht von ihm, aber sie heiraten und nachdem Namenlos erscheinen ist, scheint für Guillaume die Ehe zu Ende sein. Er zieht sich von Elisabeth zurück, will von dem zweiten Kind am liebsten nichts wissen. Später erfahren wir durch geschickte Rückblenden mehr über seine Herkunft, seine Erlebnisse und seine Obsessionen und die daraus resultierenden Schwierigkeiten und Psychosen während seiner Berufsausbildung.
Der Besuch des jungen Paares bei ihrer Mutter in Brüssel in Brüssel zwecks einer Erkundung, ob sie den beiden finanziell helfen wolle, wird zum Fiasko. Sie spricht vom „Plebs in den Bauerndörfern“, (S. 62) keinen Cent gibt es von ihr, und das war das einzige Treffen Elisabeths mit ihrer Schwiegermutter. Der Geburt Valentijns folgt Namenlos. So wie der Arzt sich von seiner Frau abwendet, gibt sie auch der Versuchung nach als der Jugendfreund Hendrik am Fenster erscheint. Dann ist da noch der eher etwas obskure Herr Funke, der Elisabeth lange mit Lesestoff versorgt, ohne andere Absichten. Nebenbei: „In Europa zerbrach die Welt.“ S. 108. „Krieg ist ein seltsames Tier. Es kriecht langsame in den Menschen hinein.“ S. 214 Die kurzen Sätze gehören zum Stil Van Steenberges. Manchmal geradezu feine präzise Aperçus, die die Handlung auf den Punkt genau kommentieren und zugleich die Spannung noch mehr erhöhen. Eine Art, die der Geschichte und damit dem Erzähler eine Art Objektivität verleihen. Nichts wird atemlos erzählt, ganz so als ob er sich Zeit nehmen würde, genau zu berichten. Das wird besonders deutlich, wenn sich Namenlos an seine Kindheit erinnerte, die später der Pfarrer verpfuschte. Aber er, der Namenlose, den alle für beschränkt hielten, lernte ungeheuer viel durch Beobachten und Zuhören: „Wenn es so vieles gibt, was man nicht kann, schult man den Rest umso mehr.“ S. 233 Ein Satz: „Niemand wusste, dass ich alles mithörte.“ S. 251 Seine Mutter hat ihm das Schreiben beigebracht: „Das fand ich immer sehr edelmütig von ihr.“ S. 240
Die verschiedenen Perspektiven, die mehr oder weniger Bekanntes also gar nichts bekanntes zu anderen Zeiten wiedererzählen, das ist es, was diesen grandiosen Roman so besonders auszeichnet, den Leser in die Geschichte hineinzieht, ihn nicht bis zur letzten Seite loslässt. Es ist ein Vergnügen, diesen Lesebericht zu verfassen und nur wenig über die eigentliche Handlung zu sagen. Bei einem ordinären Krimi, verrät man nicht, dass es der Gärtner war, hier schwanke ich zwischen dem Lob auf die Erzähltechnik, ja geradezu ein Räderwerk, eine Mechanik oder der Handlung selber, die durch die Blickwinkel und die Erinnerungen der Protagonisten so ungemein spannend präsentiert wird; beide zusammen sind der Schlüssel zum Verständnis dieses Buches, das aber durch die Empfindlichkeiten, Überzeugungen und Ticks der Personen gar nicht einfach auf einen Nenner zu bringen ist.
Kris van Steenberge
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Klett-Cotta Roman aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert (Orig.:Woesten)
1. Aufl. 2016, 438 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98034-9