Lesebericht: Marina Prezagua, Hiroshima

Was die traumatische Erfahrung, einen Bombenangriff überlebt zu haben, mit dem Opfer anstellen mag, kann sich wohl niemand ausmalen, der nicht direkt und unmittelbar selbst betroffen ist oder war. Wie viel übermächtiger jedoch mag die innere Erschütterung, wie gewaltig der Riss sein bei jenen, die den Abwurf von Little Boy, der ersten über einem zivilen Ziel eingesetzten Atombombe der Geschichte, überlebt haben. Eine Zeitenwende am eigenen Körper und all jener zu erleben, die wie man selbst völlig unvorbereitet und hilflos den Folgen der Detonation, der gewaltigen Druckwelle, der Strahlung ausgesetzt ist.

H. hat diese Erfahrung gemacht. Mit gerade einmal 12 Jahren hat sich ihr Leben von einer Sekunde zur anderen völlig verändert. Nicht nur mental, auch körperlich ist die Protagonistin in Marina Perezaguas Debütroman das Opfer der Bombe. Geboren als Hermaphrodit, verliert sie, die bald die weibliche Identität annehmen wird, ihre männlichen Geschlechtsmerkmale, nicht aber, ohne sich stets unfertig zu fühlen. Als Mischwesen, dass als Resultat der Bombe um die eigene Entscheidung der Wahl der Sexualität gebracht wurde. Diese Erfahrung macht H. zu einer Suchenden. Einer Suchenden nach dem für sie passenden Körper. Plastische Chirurgie mag die äußere Hülle verändern, doch fehlt H. eine Aufgabe, die sie, die niemals Mutter werden wird, vollends ausfüllt.

Mit dem Auftauchen von Jim, einem amerikanischen Soldaten, wendet sich abermals das Schicksal der Protagonistin. Jim war in Japan stationiert und dort mit der Pflege eines Findelkindes betraut. Doch nach mehr als 5 Jahren wurde die kleine Yoro an eine andere Familie weitergeben, sodass Jim seiner einzigen wirklichen Bindung im Leben beraubt wurde. Gemeinsam machen sich H. und Jim auf die Suche nach Yoro, die soviel mehr ist als nur ein Mädchen. Für H. ist sie Schicksal, Vertraute und Sehnsuchtsort. In ihr fühlt sie sich vollständig, der langen Suche nach dem eigenen Ich ledig:

„Nach wie vielen Dingen habe ich suchen müssen! Yoro war ganz sicher das Wertvollste, doch als ich Jim kennenlernt, suchte ich bereits seit Jahren nach etwas anderem, nämlich nach Menschen, die sich wie ich nicht in den Schemata irgendwelcher sexuellen Kategorien wohlfühlten.“ (S. 71)

Die Suche nach Yoro wird zur Sysiphos-Aufgabe, denn ganz gleich, in welche Richtung die Suche verläuft, sie endet stets an einer Mauer des Schweigens und der Geheimhaltung. Doch auch nach Jims Tod und einer langen Phase der Depression und erneuten Selbstfindung bleibt das Mädchen für H. das Zeichen, das ihren inneren Antrieb erzeugt, dass sie mehr als einmal davor zurückschrecken lässt, sich und ihr Leben aufzugeben.

Erst durch einen Brief, geschrieben von Yoro, gelangt H. auf die richtige Fährte. Die Suche führt sie nach Afrika, in den letzten Kreis der Hölle, in der Menschen und Erde rücksichtslos ausgebeutet werden, um den Hunger der Welt nach Rohstoffen zu stillen. Rohstoffe, die selbst wieder für den Bau von Bomben zum Einsatz kommen, die H’s und Yoros leben so grundlegend und unwiderruflich beeinflusst haben. Hier schließlich findet H. ihre Bestimmung, wird sie zur Rächerin Yoros, Jims und all jener, die durch die unheilvolle Verquickung von Macht, Gier und Ignoranz zu Peinigern derer werden, die sie eigentlich beschützen sollen:

„Ich weiß, dass ich das alles bald fertig geschrieben haben muss. Wohl unvermeidlich wird mich die Strafe treffen, die mit Schritten naht, die ich, wie einen heranrauschenden Zug, schon hören kann, wenn ich das Ohr auf die Erde lege.“ (S. 223)

Es sind Paradoxien wie diese, die dem Roman von Marina Perezagua seine nachdenkliche, gleichzeitig aber analytisch-scharfe Konnotation geben. In reichen, mannigfaltigen Allegorien gibt sich die Ich-Erzählerin den grundlegenden Fragen des Lebens hin: Wer bin ich und welchen Sinn kann ich meinem Leben geben? Gleichzeitig arbeitet sie sich an einer Vielzahl von Problemfeldern ab, die das menschliche Miteinander bestimmen und für den Menschen des 20. Jahrhunderts prägend sind. Die Bandbreite reicht dabei von sexueller Selbstbestimmung über die UNO-Missionen in Dritte-Welt-Ländern und die Macht von Ärzten bis hin zur Kritik an Produktionsbedingungen im modernen Kapitalismus.
Perezagua zeigt sich hier als Autorin, die die Triebfedern menschlichen Handelns genauestens beleuchtet und alles, was geschieht, einer kritischen Betrachtung unterzieht. Aus dieser Grundhaltung heraus zieht „Hiroshima“ seine poetische Kraft, die den Leser manchmal zwar etwas über Gebühr zu beanspruchen vermag, letztlich aber den Bogen schlagen kann zwischen Signifikant und Signifikat und somit die Legitimation des Romans unter Beweis stellt.

Marina Perezagua
> Hiroshima
Aus dem Spanischen von Silke Kleemann
1. Aufl. 2018, 374 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98136-0