Kaum ist der Literaturwissenschaftler Jörg Krippen in London gelandet, wo er eine Gast-Dozentur anzutreten hat, begegnet er – auf der Suche nach seinem Quartier – der jungen Frau Mae, einer, wie sich schnell herausstellen wird, Stammzellforscherin indischer Herkunft.Krippen ist ein Spezialist für Fantastische Literatur und mit > Mary Shelley, (1797-1851), bestens vertraut ist. Zu Ihrem Roman > Frankenstein oder Der moderne Prometheus (1818) sagt Wikipedia: „Der Roman wird so zu einem Lehrstück, gibt Frankenstein doch deutlich zu verstehen, dass seine Erzählung auch eine Warnung an den Zuhörer und damit auch die Leser sein soll: Er warnt vor einer entgrenzten menschlichen Vernunft, die sich selbst zu Gott macht und sich anmaßt, lebendige Materie zu schaffen.“ Mit diesem Wissen im Hinterkopf wird Krippen sich etwas widerwillig später die Reagenzgläser im Labor von Mae zeigen lasse. Natur-und Geisteswissenschaften treffen aufeinander. oder begegnen sich, wenn Mae in seinem Seminar auftaucht, das an eine Stunde über Creative Writing erinnert und dann auch ihre Texte zum Thema Reproduktionsmedizin abliefert.
Ist Jörg Krippen aus Berlin geflohen? Die Beschimpfungen seiner Frau am Handy, kaum ist er in London lassen darauf schließen. Aber da ist auch noch sein Sohn Leon, an den er immer ganze Passagen lang denkt. Pfiffig ist er, und lernt mit seinem Vater begierig, was dieser ihm über das Periodensystem der Elemente zu erzählen hat, das Krippen noch aus der Schulzeit wohlvertraut ist. Als Mae ihn nach Familie und Kindern fragt, schüttelt er dann aber doch den Kopf.
Rückblenden, elliptischer Stil, abgehackte Sätze, fast atemlos wird schnell und präzise erzählt. Das liest sich manchmal wie ein Kinoskript, lässt man sich darauf ein, werden die detaillierten Beschreibungen zum festen Bestandteil der Handlung und treiben sie voran. Die Rückblenden sind nicht bloße Erinnerungen, sie tauchen punktuell auf, aus Anlässen, die man beim Zurückblättern versteht. Krippen nutzt sie, um sich zu vergewissern, wenn Entscheidungen anstehen, so sind die Rückblenden Orientierungen für ihn, mit denen er vor sich das Ausbrechen aus der vertrauten Berliner Umgebung rechtfertigen kann.
Kapitel 11 – Dean-Rees-House: Der gemeinsame Besuch im Labor von Mae. Präparate, Objektträger, Ozon, Computerbildschirme, Argonröhren und Krippen denkt n die Phantasien viktorianischer Schauerromane und fühlt wie Mae bei ihrer Umarmung sein Geschlecht berührt. Dann der Gang über 12 – > Tower Hamlets Cemetery, wo Mae ihn verführt. Nur mit Substantiven wird hier erzählt: „Auf einem Friedhof, Hamlet. Nah der Station Mile End.“ S. 72
Die Konzentration auf seine Uni-Veranstaltungen ist dahin. Krippen sehnt sich nach Mae und erinnert sich vergleichsmäßig – er ist Komparatist- daran, wie das in Berlin war, wann wer dort und wo an seiner Hose nestelte. Der Kontakt zu seinen Kollegen in der Queen Mary University funktioniert nicht mehr so recht, die Kontakte nach Hause sind auch reduziert, nicht aber die Erinnerungen. – Beim Wiederdurchblättern für diesen Lesebericht fällt die bemerkenswerte Konstruktion des Romans auf. Ausgefeilt und in sich schlüssig, bleibt dieses Buch erstmal auf meinem Regal stehen.
Dann taucht Arundhati, die Schwester von Mae auf. Die „endlos gedehnte Nacht in einem Putzfeudelkabuff an der Kings Road“ (S. 129) – nebenbei „während der vergangenen zwolf Jahre“. Ein Treffen mit Mae und wieder die Erinnerung an seine Frau Sabrina in Berlin: „Scheiße, Jörg, du bist so ein Looser….“. (S. 135) Jörg soll der Vater von Arundhatis Kind sein. Dann reist Mae nach Berlin und sucht Krippen dort, findet ihn, beobachtet ihn und flieht, um nicht entdeckt zu werden.
Die Ergebnisse der Stammzellenforschung, die Reagenzgläser von Mae haben noch andere Überraschungen für Jörg, die sein ganzes Leben komplett auf den Kopf stellen und ihm einiges an Neuorientierungen abnötigen werden. Wer siegt die Geisteswissenschaften oder die Naturwissenschaften? In jedem Fall ist Wildenhains Roman ein gelungenes Plädoyer für die Literatur, ihre Phantasie, ihr Vermögen viel zu erzählen und zu bewerten. Auch ein Komparatist weiß viel über Chemie, aber umgekehrt? Mae kann mit den literarischen Interessen von Jörg nicht viel anfangen und Sabrina anscheinend schon gar nicht.
Michael Wildenhain
> Das Singen der Sirenen
Roman
1. Aufl. 2017, 320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98304-3