Michael Wildenhain berichtet in seinem Roman > Die Erfindung der Null von Dr. Martin Gödeler, der mit Susanne Melforsch Urlaub in Castellane im Departement Alpes-de-Haute-Provence macht. Am 13. Juli begleicht Dr. Gödeler die Rechnung und reist wohl allein ab. Der Pensionswirt findet am folgenden Tag im Zimmer der beiden persönliche Gegenstände von Frau Melforsch. Auf den Anruf bei der Nummer, die auf ihrem Meldezettel steht, reagiert sie nicht. Der Wirt gibt eine Vermißtenanzeige auf. Zwei Tage später werden Kleidungsstücke von ihr in den Georges du Verdon gefunden. Ein Labor untersucht sie, findet Blut und Spuren eines Mannes in der Jeans der Frau. Da beide in Stuttgart gemeldet sind, wird der Fall an die Stuttgarter Staatsanwaltschaft übergeben, die einen jüngeren Ermittler mit dem Fall betraut.
Rückblende. Die durch diverse Umstände verpatzte Habilitationsschrift von Martin Gödeler, dem Mathematiker und Mathematikgenie (U4), staubt auf dem Schreibtisch in der Souterrain-Wohnung unweit der Haltestelle Bopser an der Hohenheimerstraße in Stuttgart ein. Der Zustand seiner Wohnung und seine Gewohnheit, es mit der Sauberkeit nicht allzu ernst zu nehmen, sind wohl das Ergebnis seines so unsteten Lebenswandels, der ihn statt zu wissenschaftlichen Erfolgen, auf die er bestens vorbereitet war, in das Nachhilfeinstitut unterm Dach in der kleinen Kanalstraße am Charlottenplatz geführt hat.
Die Staatsanwaltschaft beurteilt die Beweislage als erdrückend und beantragt Haft. Die Verhöre gestalten sich langwierig, da es nur um Indizien geht, von Susanne Melforsch gibt es weiterhin keine Nachrichten, außer dass spurenmäßig wohl ein weiterer Mann mit ihren Kleidungsstücken in Verbindung gebracht werden kann… oder könnte, würde man ihn denn kennen. Gödeler lässt sich offenkundig auf alle Fragen des Ermittlers ein, berichtet umfassend über und aus seinem Leben – und erfährt immer mehr vom Ermittler. Sein gelungener Studienstart, die Ehe mit Gunde, das Kind…, jedes Kapitel fügt behutsam ein Detail hinzu, um ihn kennenzulernen. Irgendwann ist er dann unter die Räder gekommen, war es wegen seiner auf mathematischer Basis begonnener Liebschaften, die ihn vom rechten Weg abgebracht haben? Oder ist es der Einfluss der Umgebungen, wo er sich aufhält? Das Viertel an der Haltestelle Bopser beschreibt er mit vielen Details. Die Frage, ob er sich dort wohl fühlt, bleibt offen. Eher eine Gleichgültigkeit? „Niemand wird mit Anfang fünfzig unverhofft eine bedeutender Mathematiker. Niemand der die Karriere vor Jahren verschleudert oder verschludert hat.“ (S. 111)
Rückblenden, das Auslegen von vermeintlichen Spuren in Nebenkapiteln, die sich dann doch als nicht wichtig erweisen, aber einen anderen Zusammenhang offenbaren, der die Spannung unversehens aber umso nachhaltiger anheizt, das ist Wildenhain wirklich gut gelungen. Gödeler hat nicht viele Empfindungen, wirklich eher ein mathematischer Typ, der es mehr mit Zahlen statt mit Empathie hat. Aber gegenüber dem Ermittler hat er dann plötzlich doch Mitleid: „So ratlos und in sich zusammengesunken, wie er vor mir auf dem ergonomischen Stuhl hockt, empfinde ich Mitleid mit ihm. Derart jung. Schild und Schwere des Gesetzes.“ (S.122) – Ein Schlüsselsatz folgt im nächsten überschriftlosen Kapitel : „Die Mathematik„, die „in ihren Aussagen, streng genommen, zwar ohne Erkentnisgewinn, aber wahr ist…“ (S. 125) geht es darum? Ein ehemals angesehener Mathematiker gerät in das Räderwerk der Justiz und weil die so streng ist, fängt er selber an, Spuren in seinem Leben zu suchen. zumal auch sein Pflichtanwalt kein besonders Interesse an ihm zeigt und Prozeß für verloren anzusehen scheint.
Nichts wirklich besonderes, außer den Versuchungen durch Susanne und dann auch noch durch Lu, denen er nachgibt, ohne sie wirklich erobert oder es überhaupt wirklich gewollt zu haben. Geht es hier um persönliche Biographien, deren Wendungen, das persönliche Schicksal so nachhaltig bestimmen? Das wissenschaftliche Beziehungsgeflecht des Martin Gödeler ist weit gespannt von Leonardo Fibonacci (um 1170-nach 1240) bis Kurt Gödel (1906-1978). Ist es der (mathematische) Charakter von Martin Gödeler, der sie anzieht, es zulässt, dass die beiden den verheirateten Gödeler überwältigen?
Er versucht Lu zu verstehen: „Sowohl der Kampf für ein bedingtes Ziel als auch das Einstehen für die Suche nach Wahrheit, das Eingehen ins mathematische Feld, die Gabe, das eigene Sein mit dem einen wie anderen Anliegen darzubringen, eignet eine Kraft existentialistischer Unhintergehbarkeit.“ (S. 174) Mathematisch läßt sich das Leben nun mal nicht ausrechnen: „Eine Wucht, die nicht bezweifelt werden kann, sondern für das Individuum, das sich dem Zweck überantwortet, unmittelbar evident ist.“ (S. 174) Man darf aber fragen, ob das klare mathematische Denken, zumindest dessen eingefleischte Gewohnheit dem Verdächtigten helfen könnte, die Oberhand wieder zurückzugewinnen?
Michael Wildenhain,
> Die Erfindung der Null. Roman
1. Aufl. 2020, 303 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98305-0