| Merkur 778 – März 2014 ist erschienen | Lesebericht: Adam Hochschild, Der Große Krieg | Unser ambulantes TV-Studio
Per Leo hat eine Familiengeschichte und zugleich eine Betrachtung der Geschichte des 20. Jahrhunderts verfasst. Die Erzählung beginnt mit den Besuchen bei der Großmutter in der Weserstraße 84 in Bremen Vegesack. Und der Beschreibung der alten Familienvilla, Leos Beschreibung der Etagen und der Lage des Hauses geht in seine Erzählungen über, sie werden Bestandteil der Handlung. Fast ist es so, als könne man sich nach der Lektüre in diesem Haus bewegen und dort ihre schon vertrauten Bewohner kennenlernen. Es geht um die Erinnerung an den Großvater, dessen SS-Existenz als Abteilungsleiter im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS er nach dessen Tod entdeckt und die ihn zum Historiker macht, ganz stimmt das nicht, er studiert schon Geschichte, aber die Erkenntnisse über den Großvater, die er eigentlich schon ahnte, verdoppeln seine historische Passion. Er geht allen Spuren nach, erzählt aber nur, was er aufdeckt, nicht was sein Großvater Friedrich alles gemacht hat. Und da ist noch sein Großonkel Martin, eher ein Schöngeist, der sich ganz anders entwickelt hat. Er wohnte in der Dedeär (S. 206) und Per hat ihn einmal, als er fünf Jahre alt war gesehen.
> Nachgefragt: Per Leo, Flut und Boden – 12. Mai 2014
Die Erinnerung an die Familie besteht aus vielen Erinnerungen und Schicksalen, die Per Leo zu verschiedenen Erzählsträngen ordnet- mit deren Lektüre der Leser seine Nachforschungen miterlebt. Bedenkt man, dass das Porzellanservice seiner Ururgroßmutter 48 Gedecke gehabt hat, die an Festtagen aufgefahren wurde, kann man sich vorstellen, welche Bedeutung die Familie schon damals gehabt haben muss, als die Honoratioren in das Haus eintraten. Und dann gab es die beiden untersten Fächer des Bücherregals, dessen Vorhang man wohl aus guten Gründen jahrelang nicht angehoben hat. Als die Großmutter dessen Inhalt freigab, sicherte sich Per den Inhalt dessen, was sich als Giftschrank herausstellte. Das Haus, die Familie, Familienwappen, Bücher… „Da komme ich her,“ schreibt Leo am Ende des ersten Kapitels.
„Nazienkel“ (S. 37) wurde er und beschreibt, wie er nach Informationen über seinen Großvater forschte: Document Center und Bundesarchiv in Berlin, Zentrel Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, ein Stück kam zu andern, Namen wie > Werner Best tauchen auf und Leos Wunsch, Historiker zu werden ohne ein wirklich klares Ziel verfestigt sich. Die Geschichte prägt die Menschen und Per Leo wollte herausfinden, inwieweit die Menschen, und gerade im Fall seines Großvaters, bei der Gestaltung der Geschichte mithelfen. Es ist nicht alles nur Fatalität. Warum hat Martin sich so anders als sein Bruder Friedrich entwickelt, der sich mit seinem fehlerhaften Lebenslauf bei der SS beworben hatte?
1909, Friedrich war sechs, bezogen seine Eltern die „Villa mit der Hausnummer 84“. (S. 90) Aber es sind nicht Spuren, inwieweit hier tatsächlich die wahre Geschichte einer Familie erzählt wird, es sind die so gelungenen Bezüge zwischen der Familiengeschichte und der Zeitgeschichte, die den Leser in ihren Bann ziehen. Fast ein Staunen darüber, wie sich das alles ereignen konnte. Die Passion des Historikers, Funde zu machen und das Puzzle zusammenzusetzen wird mitgeliefert.
„Gewöhnlich ist der Mensch verwachsen mit dem, was nah ist: den zuhandenen Dingen auf dem Tisch, im Garten oder auf der Straße.“ (S. 107) Die Dinge, das Haus, die Örtlichkeiten sind die Vektoren für die Erinnerung. Als der Vater von Martin und Friedrich 1915 fällt, verändert sich das Haus und seine Bewohner. 1932 ohne Berufsabschluss kommt Friedrich immer mehr mit der Nazi-Ideologie in Kontakt. Wieder fallen Namen. Heinrich Himmler und > Walter Darré („zwei Stadtflüchtlinge mit Sympathien für die Hitler-Bewegung“ (S. 159) Als Neubauer tritt Friedrich 1934 in die SS ein.
Kurz nach Kriegsende erhält seine Familie seine moralischen und pädagogischen „Richtsätze“, die Friedrich in der Gefangenschaft verfasst und an die Familie adressiert hat: „Wie ist dieser Moralexzess der Moralbrecher zu verstehen?“ fragt Per Leo und „Möglicherweise hatten sie auch nicht mehr alle Tassen im Schrank.“
Nehmen Sie sich ein wenig Zeit, gehen Sie in > die nächste Buchhandlung und rechnen Sie damit, dass Sie dieses Buch in einem Zug in einem Zug durchlesen werden. Das ist hier nur ein Lesebericht, eine Rezension über Bücher aus dem eigenen Haus werden hier nicht verfasst, aber dieses Buch ist eine Einladung, die Verbindung von persönlicher Geschichten mit der Zeitgeschichte genauer zu untersuchen. Einerseits erzählt Per Leo, und andererseits hat er ein Protokoll seiner Recherchen angefertigt.
Per Leo
> Flut und Boden.
Roman einer Familie
2. Aufl. 2014, 352 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98017-2