Lesebericht: Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land

Raphaela Edelbauer lädt uns mit ihrem Roman > Das flüssige Land zu einer erlebnisreichen und spannenden Reise nach Groß-Einland ein. Muss man wissen, wo sich dieser Ort in Österreich befindet? Ist das wirklich wichtig? Nun, der Leser ist immer neugierig. Der Roman fängt mit dem Autounfall der Eltern der Erzählerin an, die beide beim Abrutschen ihres Fahrzeugs über eine Schotterhalde nahe Syhrntal ums Leben gekommen sind. Das Syhrntal befindet sich unterhalb des Raachberges, Kranichberg ist in seinem südlichen Teil. Im Norden ist Enzenreith. Gloggnitz liegt am Fuß des Raachberges. Diese geographische Einordnung ist nicht ohne Bedeutung, da die Verunglückten anscheinend kurz vor dem Unfall in Groß-Einland gewesen waren.

Die Dinge nehmen ihren Lauf: „Alle Rollen waren verteilt, die Zahnräder griffen ineinander, alle Zylinder der Mechanik warteten darauf, zur Trauerpflicht aufgerufen zu werden:“ Ruth Schwarz, Physikerin und Erzählerin, muss die Beerdigung organisieren. Ihre Tante weiß wieder mal alles ganz  genau: Die Eltern wünschten, in Groß-Einland beigesetzt zu werden, da ihre Eltern aus diesem Ort stammten.

Wenn der Anlass nicht so traurig wäre, hätte die Fahrt nach Groß-Einland so schön werden können. Aber wo ist der Ort? Im Wechselgebiet? Im Mittelgebirge im Osten Österreichs nahe an der Steiermark? Die Frau im Kommunalamt ist überfordert. Vage erinnert sich Ruth an eine Höhle im Untergrund von Groß-Einland, davon hatte ihre Mutter ihr erzählt: Alte Fahrzeugteile mit Panzerglas sollte es dort geben. Fünf Tage irrt die Erzählerin durch Täler, macht Bekanntschaften in Gasthöfen, erzählt von ihrer Blockuniversumstheorie, die das Thema ihrer Habilitation ist. Rein zufällig beim Tanken hört sie, wie jemand von Groß-Einland erzählt. Eine „Auslassung, die senkrecht zwischen die Bäume führte“, aha, also ein Hohlweg, dessen Enge und Windungen ihrem Auto ganz schön zusetzen, verbeult, verkratzt, um einige Teile ärmer kommt Ruths  Auto in der Nacht am Ortsschild von Groß-Einland an.

Ein Zimmer? Sie sind nicht in Groß-Einland gemeldet, erklärt ihr der Nachtwächter und verweist auf eine Anordnung der Gräfin, die über den Ort herrscht, gibt ihr dann aber doch einen merkwürdigen Tipp für die Übernachtung. Eigentlich will Ruth nur die Beerdigung organisieren. Aber aus der Stippvisite wird eine ziemlich lange Zeit: ich „verspürte den Drang, einige Tage zu verharren,“ (S. 65) und sie wird im Laufe der folgenden Monate mit den Usancen in Groß-Einland vertraut gemacht: „Ich fand eine Heimat.“ (S. 114). Und so nach und nach gewinnt sie das Vertrauen der Einwohner, die dann doch einiges preisgeben. Das Loch? „Irgendwann wird der Pergerhannes daraus hervorsteigen.“ (S. 67)

Immer wieder stößt sie auf die Geschichte des Ortes. Allmählich beginnt sie sich dafür zu interessieren, was es mit dem großen Loch unter der kleinen Stadt auf sich hat. Was geschah dort während der NS-Zeit? Im wahrsten Sinne eine sich verschüttende Geschichte, die die Bewohner von Groß-Einland verdrängen wollen. Aber Geschichte ist hartnäckig. Immer wieder erscheinen Hinweise auf rätselhafte Vorgänge. Ruth findet Mosaiksteine, die am Anfang nur schwer zusammenpassen. Es folgen neue Indizien, die den Erzählbogen weiter spannen. Raphaela Edelbauer beweist ihr bemerkenswertes Erzähltalent. Noch ein weiteres Kapitel vor der Lesepause, in der man seine Neugier auf die weiteren Ereignisse zügeln muss. Subtil bettet sie das Thema ihres Romans in das langsam versinkende Dorf ein, ganz so als ob Verdrängung und Ignoranz der Gesellschaft in dieser kleinen Stadt den Boden entziehen würden.

Dazu gibt es das strenge Regiment der Gräfin, die vom Schloss aus nicht nur die Stadt regiert, sondern auch auf die Gefühle ihrer Untertanen ohne Widerworte Einfluss nehmen will. Ein Salon ist nur Theater: Die Gräfin lässt andere sprechen, „um dann wie eine Viper auf die Schwachstellen der Rede zu schießen.“ (S. 125) Was allgemein als Unglück empfunden wird, will sie in ein Happening – eine Parallelaktion Musilscher Prägung – ummünzen und macht aus Ruth Schwarz ihre Beraterin, die sich aber nicht als gefügig erweist und außer ihren geologischen Aufgaben, die Vergangenheit von Groß-Einland immer genauer unter die Lupe nimmt. Das Kunstfest rund um das Unglück der kleinen Stadt soll ihren Durchhaltewillen stärken, Touristen anlocken, wirtschaftlichen Aufschwung versprechen. Jeder bekommt eine Aufgabe.

Ruth Schwarz findet Zeitzeugen, die ihr wenn auch nur andeutungsweise interessante Dinge erzählen können. Immer wieder der Blick in die Geschichte, der auch jetzt auch die Verhältnisse in der kleinen Stadt so nachhaltig prägen. Und die Physikerin lässt sich auf die Vorstellungen der Gräfin ein und mit ihren Arbeitsgrundsätzen „Schönung, Streckung, Auffüllung“ werden manipulative Methoden beschrieben, die an totalitäre Gesellschaften erinnern. Ganz so als sei die unverarbeitete Geschichte noch immer mit ihren Gefahren präsent. Die Verknüpfung dieser verschiedenen Erzählebenen ist der Autorin beeindruckend gut gelungen. Allen Protagonisten lässt sie ihren eigenen Horizont mit ihren Vorstellungen und Hoffnungen. Das Schicksal der Hauptperson Ruth Schwarz treibt die Spannung auf neue Höhepunkte, auf denen der Roman in eine Krimierzählung übergeht.

Das flüssige Land ist eine fiktive Erzählung, die durch die ausgeprägte Schilderung der Protagonisten und die Berichte der Erzählerin vor dem Hintergrund der ungeklärten Fragen der Geschichte, an die das Sacken des Stadtbodens erinnert, nahezu reale Züge entwickelt, die Ruth zeitweise den Grund ihres Aufenthalts vergessen lassen. Ihre Eltern bestimmten ihre Forscherneugier, mit der ihre Erkenntnisse sie zu immer neuen Fragen führen. Die verdrängte Geschichte bricht sich Bahn, kann nicht verdrängt werden. Manche der Fragen, die sich nach den vergangenen Zeiten stellt, können auch an anderen Orten gestellt werden.

Die Gemeinschaft repräsentiert durch die Gräfin setzt ihrem Willen nichts entgegen und fügt sich.  Aber das Wissen und die Kombinationsgabe, für die Ruth von ihr bezahlt wird, hat Folgen. In dieser Hinsicht gibt es in diesem Roman noch eine weitere Erzählebene, dass die Initiativen einer einzelnen Person in einer solchen fremdbestimmten Gesellschaft herausstellt.

Raphaela Edelbauer
Das flüssige Land
Roman
1. Aufl. 2019, 350 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-96436-3

Herzlichen Glückwunsch:

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