Lesebericht: Steve Sem-Sandberg, Der Sturm

Wenn Sie einen Roman suchen, der sie entführt, von allem ablenkt, einen Roman, in den man sich so richtig vertiefen kann, in dem man die lauten Gespräche im ICE nicht mehr hört, der sie so gefangen nimmt, dass Sie einfach mal ein paar Stunden weiterlesen, ohne an Termine zu denken, alles um sich vergessen wollen, dann hätten wir was für Sie. Steve Sem-Sandberg hat mit > Der Sturm einen Roman geschrieben, der Ihnen ein Leseabenteuer verspricht.

Sem-Sandberg nimmt uns nach Norwegen mit. Andreas kehrt auf die Insel zurück. Er muss sich dort um den Nachlass seines verstorbenen Adoptivvaters Johannes kümmern. Kaum betritt er dessen Haus, das Gelbe Haus, werden Erinnerungen an seine Kindheit wach. Damals kam er nach dem seltsamen Verschwinden ihrer Eltern mit seiner Schwester Minna in die Obhut zu Johannes. Und er entdeckt Spuren der Kinder-Kolonie, die damals unter der faschistischen Regierung von Vidkun Quisling (Nasjonal Samling), auf der Insel eingerichtet wurde: „Ich hätte nicht auf die Insel zurückkehren sollen…“ (S. 7) – „Das Klima hier draußen auf den Inseln ist ein anderes, pflegte Johannes in jenem maßlosen Eifer, den er sich in späteren Jahren zugelegt hatte, zu erklären.“ (S. 8)

Bei anderen Büchern geht es unserer Redaktion ähnlich, das Lesen, am besten das Vorlesen der ersten Seiten zieht uns in den Roman hinein, aber dieses hier eignet sich ganz besonders gut zum Vorlesen.

Es geht um Erinnerung, um die vielen Bruchstücke, damalige Ereignisse, der Versuch, die Spuren von damals wieder aufzunehmen, sich einen Reim auf die Vergangenheit zu machen, neue Fragen tauchen auf, frühere Begebenheiten erscheinen in einem neuen Licht. Und Andreas, der sich mit dem Erbe von Johannes beschäftigt, merkt zunächst noch nicht, dass er sich auf eine Reise nach seiner eigenen Herkunft begeben hat. Der Reserveschlüssel zu Johannes‘ Haus hängt immer noch an der gleichen Stelle. Die ersten Hinweise auf die Biographie seines Adoptivvaters werden zu einer Inselgeschichte: die Kolonien, die Landnahme der Zugereisten, die Kinderkolonie unter dem Faschismus. Kaufmann und der Haupthof, die erste Kolonie, der erste Job bei Kaufmann, der Krieg, seine Entlassung: „Es war, als befände sich Johannes mit dieser fragmentarischen, ständig von neuem aufgenommenen Verteidigungsschrift in einer Art ununterbrochenem Rückzug, quer durch Raum und Zeit wie beim Ende kein anderer Halt blieb als eben dieser kleine Winkel zwischen Klapptisch und Speisekammer, wo er allabendlich an seinen Briefen saß, die er an mich sandte.“ (S. 46)

„Wir hatten unsere eigenen inneren Räume…“ (S. 74) mit ihren Ritualen aus der Kindheit, an die Andreas sich genau erinnert. Damals waren er und Minna sich sicher, dass die Eltern in Amerika wohnten und ihnen jederzeit die Flugtickets schicken würden. Und die Stunden, in denen Johannes den beiden vorlas: „Und wenn er zu einem Abschnitt kam, der ihm besonders zusagte, las er ihn oft mehrmals hintereinander, wie um jedes einzelne Wort abzuschmecken.“ (S. 84. So würde uns das auch beim Vorlesen gehen. Es gibt mehrere Kapitel in diesem Buch, die wir bei einer Lesung gerne zweimal vorlesen würden: das ist dann wie bei einem Film, den man zum zweiten Mal sieht und dann  staunt, welche neuen Details man dabei entdeckt: „Dass die Wörter sich ruhig zurechtlegten und Satz für Satz sich vollendete, war gleichsam ein Garant dafür, dass nie etwas zu Ende ging, dass dem, was Johannes gelesen hatte, immer ein neuer Satz folgen, ein weiteres Ereignis sich dem anschließen würde, von dem er gerade berichtet hatte.“ (S. 84) Mitten in diesem Roman steht dieser Absatz über das Vorlesen von Johannes als eine kleine Poetik der Lektüre, Glück für die Kindheit, etwas was den Minna und Andreas immer im Gedächtnis haften blieb. So wie mein Vater mir – wann war das ? – Sigismund Rüstig (1842) von Frederick Marryat ganz vorgelesen hat. Abends immer zur gleichen Stunde.

Damals. Andreas findet im Nachlass von Johannes Schriften und Unterlagen von Kaufmann und allmählich fügen sich für ihn die Bausteine der Erinnerung zusammen.Er findet manches, wonach er gar nicht gesucht hat. Die Biographien von Kaufmann, seinem Verwaltern Carsten, die Fotos, auf denen er seine Eltern wiederfindet und er spürt, wie sie auf dem Bild „ihre Blicke auf mich richten“ (S. 176). Der Übergang zum Kriminalroman ist fließend. Auch ohne Kriminalgeschichte sind Romane nicht weniger spannend. Aber hier gibt es Indizien, Vergessenes, Spuren die zu einem Geheimnis führen, das sich vor Andreas Auge allmählich offenbart. Die Vergangenheit enthüllt sich vor seinen/unseren Augen. Viel Kombinationsgabe gehört eigentlich nicht dazu, denn die Geschichte der Insel rekonstruiert sich ganz leicht durch die Biographie der Beteiligten… die Versammlungen, die Umzüge, die Massen: „Denn die Masse hat keine Intelligenz, agiert nur nach Instinkt, bewegt sich unbeirrbar auf den Teil des Körpers zu, der am schwierigsten zu verteidigen ist.“ (S. 196)

Nein. Wir werden nicht mehr von der Geschichte erzählen, deren Ausgang überrascht, wo wie er auch verstört: Minna war weg. Und Andreas zieht es wieder auf die Insel.  Und er begriff: „dass ich nur hinfuhr, weil es für mich keinen anderen Ort gab.“ Man kennt das aus Reisen zu den Orten seiner Kindheit, als wenn man endgültig Vergangenes noch am Rockzipfel zu packen bekommt und von dort aus plötzlich in die Zukunft sehen kann. Dinge aus der Vergangenheit erscheinen unter einem neuen Licht. Nichts von dem was sich damals auf der Insel ereignete,  hatte Andreas damals nicht nur nicht gesehen, auch nichts davon geahnt, geschweige denn auch nur annäherungsweise verstanden. Kann man heute die Erinnerung an die wunderbaren Stunden mit Minna mit ihren Ausflügen quer über die Insel von diesen obskuren Ereignissen trennen?

Steve Sem-Sandberg ist mit diesem Roman eine beeindruckende Erzählung gelungen, die die Suche nach Spuren im Rahmen einer Vergangenheitsbewältigung, die nie so recht gelingen will, offenbart. Was damals verheimlicht, kaschiert und unterdrückt wurde, blieb an den Biographien haften, Geschichte vergeht nicht und die Erinnerung ist viel mehr als eine bloße Aufzählung von Ereignissen, sie ist wie ein Kontoauszug mit Soll und Haben.

Steve Sem-Sandberg
> Der Sturm
Roman
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek (Origi.: Stormen – en berättelse)
1. Aufl. 2019, 267 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98120-9

> Nachgefragt: Steve Sem-Sandberg, Die Erwählten – 10. November 2015:

„Adrian Ziegler ist elf Jahre alt, als er nach Steinhoft kommt: “ Das erste Mal wurde er im Januar 1941 auf den Spiegelgrund gebracht, eines klaren kalten Wintermorgens, an dem das bleiche Licht über dem Boden vor Frost glitzerte. Adrian Ziegler sieht noch die kupfergrüne Kuppel der Anstaltskirche vor sich, die sich auf dem Berg oberhalb der Pavillons erhob, und dahinter den Himmel, so blau, wie kein Himmel in Wirklichkeit blau sein kann, nur auf einer Postkarte oder vielleicht auf einem Plakat.“ (S. 15)  > Bitte Weiterlesen.

Steve Sem-Sandberg
> Die Erwählten
Roman, aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek (Original: De utvalda)
1. Aufl. 2015, 525 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-93987-3

Auf der Frankfurter Buchmesse gab es eine Gelegenheit, Steve Sem-Sandberg, nach seinem neuen Buch> Die Elenden von ?ód?, das gerade bei Klett-Cotta erschienen ist, zu befragen. In dem Roman wird die Geschichte des Gettos von Lódz vom April 1940 bis zu seiner Befreiung im Januar 1945 erzählt. Habe Sem-Sandberg gefragt, welche Dokumente er benutzt hat und wie er den Deutschen eingesetzten Ältesten des Judenrates Mordai Chaim Rumkowski, die zentrale Figur seiner Erzählung beurteilt: > Bitte weiterlesen.

Steve Sem-Sandberg
> Die Elenden von Lodz
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek (Orig.: De fattiga i ?ód?)
1. Aufl. 2011, 651 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-93897-5