Rezensionen, wie unsere Redaktion hier schon öfters anmerkte, stehen woanders, hier sind es Leseberichte, und es ist unserer Redaktion nach wie vor arg peinlich, wenn sie so schön und positiv ausfallen. Aber bei diesem Roman ist ihr das überhaupt nicht peinlich, da wir gerne jedem potentiellen Leser, der noch zweifelt, am liebsten aus diesem Buch gleich mal eine längere Passage vorlesen würden.
Man darf nie irgendwelche anderen Rezensionen lesen, nur das Buch selber, um das es geht. Sich nicht den Blick verstellen lassen und nach bald 400 Leseberichten auf diesem Blog, gibt es auch schon die Versuchung mal so eine richtige Rezension zu schreiben. Aber da unsere Redaktion für das eigene Haus aber auch für unsere Leser/innen liest und schreibt, bleibt es beim Lesebericht.
In diesem Roman geht es um Erinnerungen, wie sie erlebt und wie sie verarbeitet werden und wie sie später immer noch so virulent sind. Gar nicht so nebenbei, wie der Duft des Gartens aus der Teetasse der Erzählers in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit auftaucht. Nein, hier verlaufen Handlungsstränge aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart, es geht nicht darum, dass diese das Handeln von Matthias Weber immer noch bestimmen, es geht hier auch um die Konstruktion des Romans, der sich wie eine Familiengeschichte präsentiert, in der vor- und zurückgeblättert wird. Onkel, Mutter, Opa sterben nacheinander, immer wieder geht ein Abschnitt, eine Epoche für den heranwachsenden Matthias zu Ende, in dem Viertel mit den vielen skandinavischen Straßennamen im Ostteil Berlin direkt neben der Mauer. Matthias konstruiert sich so gerne seine eigene Welt, in dem er Straßen umbenennt, wohl um sich dort noch heimischer zu fühlen, nicht um Erinnerungen zu dokumentieren, auch um ein bisschen Sehnsüchte auszudrücken.
Zu einem Geburtstag bekommt er ein Buch „Weltanschauung – Für die Jugend erklärt“ und findet dort ein Kapitel über Sartre und Camus. Sartre schreibt über die Freiheit, Camus über Sisyphos‘ Kampf gegen den Gipfel. Matthias spürt dass der Marxismus-Leninismus beiden nicht recht gewachsen ist. Das Buch hat er von seiner Mutter bekommen, die hofft, dass er Sohn auf die EOS kommt. Westliches Ausland. Matthias ist gespannt.
Er verlässt das Viertel, geht ins Ausland, kommt aber nach dem Fall der Mauer in sein Viertel zurück. Durch Zufall kommt er auf die Idee, eine Karriere als Makler anzufangen, die er aber auch als Konservator der Strukturen des Viertels versteht. Nicht jeder wird dort eine Wohnung erwerben können. Manche kommen und wollen gleich etwas auf den Kaufpreis drauflegen, am besten gleich zum Notar. Weber schaut sich die Kandidaten genau an und sucht sich die Klientel für sein Viertel genau aus. Manche suchen die passende Wohnung, er sucht die passenden Mieter oder Käufer.
Aber da sind noch ein paar dunkle Punkte in der Familiengeschichte, nichts wirklich Schlimmes, aber die Eltern und Großeltern haben da doch noch Geheimnisse, die Sache mit dem Fluchtversuch, die so richtig gar nicht geklärt ist, dieser Lehmann…. Matthias Interesse ist geweckt und der Leser gewinnt den Eindruck, dass er bleibt, bis diese Sache geklärt ist. Dann stirbt sein Vater, und der Sohn hat immer noch das Gefühl, nicht alles zu wissen. Onkel Winfrieds Zimmer ist mit vielen Kisten vollgestellt, lange unberührt. Irgendwann entschließt sich Matthias doch mal nachzusehen. Er findet kleine Zettelchen aus den sechziger Jahren…. Helsinki, Annelie… Es dauert nicht lange, und Weber ist auf dem Weg nach Helsinki. Spurensuche? Er denkt an seinen Onkel, geht die Straßen und Orte ab, die auf den Zettelchen genannt sind. Also doch eine Reise in die Vergangenheit, eine Suche nach der Stadt Winfrieds?
Die Erlebnisse Matthias Webers als Makler interpretieren seine Vergangenheit, aber er nutzt auch jede Gelegenheit, eine Frau zu finden, Luisa seine Dozentin an der Uni, die fast doppelt so alt ist wie er; Marina, die ihm erklärt „Du bist ein Vielleicht-Mensch. Das bist Du.“ (S. 81) Clara, Annamaria, vielleicht passen sie am Ende nicht zu ihm, oder er ist doch ein unsteter Geist? Nein, ihm ist schon bewusst, dass die Zeit Änderungen und Wechselfälle mit sich bringt und die U4 bringt es auf den Punkt: „eine Geschichte vom Glück des unglücklich verstrickten Menschen.“
Torsten Schulz
> Skandinavisches Viertel
1. Aufl. 2018, 265 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98137-7