Lesebericht: Ulrich Alexander Boschwitz, Menschen neben dem Leben

Nachdem Roman > Der Reisende von Ulrich Alexander Boschwitz (1915-1942) ist jetzt auch der Roman > Menschen neben dem Leben (Originalausgabe: John Grane: Människor utanför. Stockholm : Bonnier, 1937) aus seinem Nachlass bei Klett-Cotta erschienen.

Der Autor weiß: „Menschen hingegen stellen Ansprüche an das Leben und sie wollen mitverdienen, wenn der Fabrikant verdient. Sie haben politische Ansichten und verfechten sie auch. Und diese Ansichten stimmen sehr häufig nicht mit ihren Arbeitgebern überein.“ (S. 25) Sozial- und Wirtschaftskritik gibt es hier nicht zu knapp. Und „Die Schnelligkeit der Arbeit wurde in den großen Werken von Fließbändern bestimmt. Das hässliche System der Antreiberei durch den Meister konnte damit fallengelassen werden. Es genügte, das Fließband etwas schneller einzustellen, damit jeder entsprechend arbeitete. Wer nicht mitkam, wurde entlassen.“ (ib.) Der Druck auf die Arbeiter, ihre Ausbeutung und die Folgen illustrieren hier in einem Absatz die Rationalisierung. Das Ergebnis bekommt das Personal des Romans zu spüren, das entweder betteln gehen muss und/oder in ihrer unmittelbaren Umgebung in der Familie ihre Wut an ihren Mitmenschen auslässt. Geschickt berichtet Boschwitz von Walter Schreiber und seinem Gemüseladen, in dem zwei Bettler für die Nacht im Hinterzimmer unten im Keller für 1.50 Mark für die Nacht Unterschlupf suchen. Fundholz, Tönnchen, der blinde Sonnenberg, jeder guckt, wie er zu ein paar Groschen kommt und ist dabei mehr oder weniger auf die anderen angewiesen. Fundholz geht in Miethäusern betteln und erläutert nebenbei die Taktik, wie man dabei vorgehen muss. Manchmal wird nach dem Öffnen der Tür diese sofort zugeschlagen und der Riegel vorgeschoben. Frauen in der Situation von Fundholz gehen tippeln oder anschaffen, so wie Minchen, die von einem Herrn eine Wohnung erhalten hat, dafür dass er sie zwei-dreimal die Woche nach Vorankündigung besuchen darf.

Boschwitz schreibt, als drehe er einen Film. „Die Autos standen in Reih und Glied. Das Verkehrssignal verbot die Weiterfahrt. Endlich wechselten die Farben. Wie eine Herde wilder Tiere brüllten die Autos auf. Vorwärts. Der Schlachtruf der Großstadt ertönte. Hysterisch klingelten die Straßenbahnen. Dumpf grollten die Autobusse. Leise meckerten die Klingeln der Fahrräder. Die Autos und die Lastwagen stießen eine dunkle, mit hellen Tönen gemischte Musik aus. Vorwärts.“ (S. 76)

Der von Peter Graf wiederentdeckte Roman spielt in den Zwanziger Jahren in Berlin.
Nacheinander werden verschiedene Personen mit ihren Schicksalen eingeführt. Unter ihnen kleine Händler, Bettler und Verarmte, die sich mit Kräften gegen den sozialen Abstieg wehren. Im Roman gibt es einige Bemerkungen, mit denen der Zeitpunkt der Niederschrift dieses Romans eingegrenzt werden könnte: „Es gab damals viele Partien, die alle ausgezeichnete Lösungen für die Erwerbslosen in der Tasche hatten. Aber sie arbeiteten auf lange Sicht und machten die Übergabe der politischen Macht an sie zur Bedingung ihrer Hilfe.“ (S. 181) Solchen Bemerkungen folgt dann wieder eine Forstsetzung des Erzählfadens: „Wilhelm Winter wollte nicht so lange warten. Er hatte es eiliger als die Partien und darum ging er auch gesondert vor. Auch er hatte den Eindruck, dass man vielfach die Erwerbslosen zwar als politischen Hebel benutzen wollte, im Übrigen jedoch kein Interesse daran hatte, ihnen vorläufig anders als mit Programmversprechen zu helfen.“ (S. 181).

Bochwitz‘ Roman ist also ein politischer Roman. Was nach dem Aufblättern und der ersten Leseprobe als Sittengemälde erscheint, enthält knappe auf den Punkt gebrachte und deswegen aber nicht minder präzise politische Analysen: Im zitierten Absatz heißt es: „Im Gegenteil, ein Anschwellen der Erwerbslosigkeit wurde, wenn auch nicht unerwünscht, so doch ganz gerne gesehen, da man den derzeitig Regierenden Schwierigkeiten bereiten konnte.“ (ib.) Das politische Geschäft ist leicht zu durchschauen, wenn man sich auf den Einsatz der Interessen und Ideologien von Protestparteien konzentriert: Ein Absatz weiter: „So haben dementsprechend auch die modernen Propheten das Paradies vorverlegt und bereits eine irdische Verwirklichung in Aussicht gestellt.“

Und die, denen es ein bisschen besser geht, tagen im Hinterzimmer der Kneipe. Die Zuhälter kennen ihre prekäre Situation und bei ihren Besprechungen tarnen sie sich als Liederkranz immer bereit, ein fröhliches unschuldiges Lied zu intonieren.

Viele Kapitel dieses Romans eignen sich wunderbar zum Vorlesen, weil der Autor Spannung, präzise Beobachtungen und die kleinen Überlebenskämpfe der Bettler dramaturgisch sehr geschickt miteinander verknüpft. Er erwählt nicht nur ihre Geschichten, er wägt ihre Handlungsoptionen miteinander ab, deckt Ursachen, wie oben angedeutet, auf und betrachtet die Folgen auf für die Einzelnen, so wie im Falle des blinden Sonnenbergs, der seine Frau betreut und schlägt und plötzlich erfährt, dass andere auch sehr gewaltsam werden können.

Ulrich Alexander Boschwitz
> Menschen neben dem Leben
Roman
1. Aufl. 2019, 303 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-96409-7

Ulrich Alexander Boschwitz
> Der Reisende
1. Aufl. 2018, 303 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Lesebändchen
ISBN: 978-3-608-98123-0
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> Lesebericht: Ulrich Alexander Boschwitz, Der Reisende