Lesebericht: Urs Augstburger, Helvetia 2.0

Unser Krimispezialist > Oliver W. Steinhäuser hat den Band von Urs Augstburger gelesen:

Die Wasmeier Consulting bedroht die klassischen Medienkanäle der Schweiz. Sie kauft Tageszeitungen, Radiostationen und andere Medienunternehmen auf, um sie von innen heraus neu zu strukturieren. Der Strukturierungsplan „Helvetia 2.0“ soll sie auf die digitale Transformation vorbereiten. Eine solche Veränderung trifft auch den Kult Radio DJ Anders Droka, der mit seiner Abend- und Nachtsendung eines der letzten Urgesteine live übertragener Radiounterhaltung in der Schweiz ist. Ausgerechnet am Abend, als Anders erfährt, dass die Umstrukturierung des Senders durch die Consulting Gruppe seinen bisherigen Job wegrationalisiert, ist er, ohne den Unfallgegner zu kennen, in einen kleinen Verkehrsunfall mit einem der leitenden Mitarbeiter der Consulting Firma verwickelt. Diesem folgt Anders nach dessen Fahrerflucht und wird Zeuge der Ermordung des Mannes. Als die Mörder merken, dass sie von dem DJ beobachtet wurden, nehmen sie seine Verfolgung auf. Zum Glück entkommt er. Als Droka am kommenden Morgen durch die Nachrichten erfährt, dass der getötete Mann verantwortlich für seine Entlassung ist, und dass dieser Selbstmord begangen hätte, wird im klar, dass es kein Zurück in sein altes Leben gibt. Die Lage ist verzwickt, vor allem, da sogar der Lack seines Motorrads am Wagen des Ermordeten hängt. Anders Droka muss untertauchen und recherchieren.

Urs Augstburger manövriert seinen Romanhelden in eine irrwitzige Geschichte habgieriger Consultingfirmen, deren höchste Ziele die Steigerung ihres eigenen Profits sind. Und ausgerechnet Bender, ein alter Schulkamerad Drokas, besetzt eine führende Position in der Wasmeier Consulting. Auch ihn beobachtet Droka dabei, wie er die gleiche Adresse aufsucht, wie der ermordete Kollege Benders. Eine Adresse, die zu einer jungen Frau führt, die auch ihm nicht völlig unbekannt ist. Liegt in der Beziehung zu dieser Dame der Dreh- und Wendepunkt aller Vorkommnisse?

Der Kult Radio DJ fasst einen Entschluss:
Er heftet sich an die junge Sängerin und folgt ihr bis nach Saint Tropez. Während dieser Verfolgung erlebt Droka Erinnerungssequenzen aus seiner Jugend, in der er mit seiner Clique, zu der auch Bender gehörte, einen fatalen Fehler gemacht hatte, der einen Jungen das Leben kostete. „Eine gute Idee zur Charakterisierung“, denkt sich der Leser. „Das bietet einen Zugang zur emotionalen Welt der Protagonisten“, überlegt man weiter. Doch das Ausmaß der damaligen Geschichte, das Resultat langwieriger Vertuschung und der inneren Zerrissenheit, ahnt der Leser zu diesem Zeitpunkt keineswegs.

Stattdessen beobachtet er den DJ bei seiner optischen Transformation in die Anonymität, durch die der Kontakt zur jungen Sängerin erst gelingt. Denn auch sie kennt Droka. Gemeinsam kommen sie hinter das perverse Doppelleben der Wasmeier Consulting, die einerseits indirekter Kern politischer Hetze gegen Flüchtlinge betreibt, jedoch gleichzeitig Millionen mit einem flüchtlingsrelevanten Geschäftsmodell scheffelt.

Trotz der unglaublich menschenverachtenden Machenschaften der Wasmeier Consulting sowie der Enthüllung der wahren Geschehnisse aus den Jugendtagen Benders und seiner gemeinsamen Clique mit Droka, entstehen in „Helvetia 2.0“ traumhafte Bilder von Sandstränden und dem abenteuerlichen Leben zweier sich ineinander verliebender Menschen. Momente in denen es zur völligen Ignoranz der Außenwelt kommt. In denen sich Zweisamkeit und Euphorie mit der turbulenten Wirklichkeit die Hand reichen.

Urs Augsburger erweckt unter dem störrigen und wenig greifbaren Titel „Helvetia 2.0“ einen wunderbaren Roman, dem man nur schwer wieder entkommt. Das Buch fesselt durch die unglaubliche Geschichte aus politischen Machenschaften und Geldgier sowie der Verstrickung alter Jugendsünden bis in die Gegenwart hinein. Zusätzlich projiziert Augsburger durch seinen Text unglaubliche Bilder von Sonne, Meer und aufkeimender Liebe.

Urs Augstburger
> Helvetia 2.0
Thriller
1. Aufl. 2017, 303 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-50344-9

 

Und ein Blick in unser Blogarchiv:

In unserem > Lesebericht: Urs Augstburger „Als der Regen kam“ hieß es:
„Urs Augstburger Roman > Als der Regen kam ist ein besonders gelungenes Beispiel, wie ein sehr bedrängendes Problem in literarischer Form vorgestellt und untersucht werden kann. „Für sie, mit den weißen Haaren“ lautet die Widmung des Buches und ist vielleicht als Reverenz an diejenige gedacht, die ihn zu diesem Buch inspiriert hat? Das Buch ist auch ein Essay über Demenzerkrankungen. Helen Nesta ist an Alzheimer erkrankt und befindet sich in einem Pflegeheim. Aus Genua kommend steigt Mauro aus dem Zug, um nach zwei Jahren seine Mutter wieder zu besuchen. […]“

Urs Augstburger
> Als der Regen kam
Roman
2. Aufl. 2012, 288 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-608-93974-3

In unserem Lesebericht: Urs Augstburger, Kleine Fluchten
Gerade ist der neue Roman von Urs Augstburger, > Kleine Fluchten erschienen. Rea und Peer sind in die Berge gereist. Dort veranstaltet seine Firma ein Fest, das ihnen und ihrer Ehe bestimmt gut tun wird. Durch einen Zufall ergibt sich für Rea eine Bekanntschaft, die nach einer kurzen Berührung zuerst ganz virtuell bleibt, in der es dann immer mehr online so angenehm knistert (Dazu Shirley P. Glass, Jean Coppock Staeheli, > Die Psychologie der Untreue, Stuttgart: Klett Cotta 2015, S. 56 ff: Die Intimität der sozialen Medien.) Man kennt das, er sitzt dauernd vor seinem PC, Peer ist Softwareentwickler, da fällt einem ständig etwas ein, was gleich verbessert, optimiert werden muss. […]

Urs Augstburger
Kleine Fluchten
Roman
1. Aufl. 2015, 392 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98023-3

Urs Augstburger
Kleine Fluchten