Lesung: > Zülfü Livaneli: „Unruhe“ | „Huzursuzluk“ – Deutsch-türkisches Forum:
Montag, 22. Oktober 2018 – Einlass 19:00 Uhr,
Beginn 19:30 Uhr
Ort: Hospitalhof Stuttgart, Büchsenstraße 33,
70174 Stuttgart
Zülfü Livaneli hat mit dem Roman > Unruhe einen packenden Roman verfasst. Eigentlich ist das eine Novelle, kein dicker Roman, 168 Seiten, kleines Format. Ibrahim, ein Journalist hört vom Tod seines Jugendfreundes Hüseyin und fährt in ihre gemeinsame Heimatstadt > Mardin, um herauszufinden, was da passiert ist. Sein Freund hatte seine Verlobung gelöst und sich mit Meleknaz einer vor dem IS geflohenen Jesidin liiert. Keiner der Verwandten kann sich erklären, wieso Hüseyin diese Entscheidungen getroffen hatte. In der Türkei wird ein Attentat auf ihn verübt, er reist in die USA zu seinen Brüdern, um in Sicherheit zu sein und wird dort ermordet.
Ein Roman erzählt eine Geschichte, dieser hier bricht ab… in der Mitte der Geschichte? Oder als es nicht mehr zu erzählen gibt? Kurz vor dem Ende des Romans, wird auf den letzten Seiten eine Deutung vorgelegt (also bitte, diese jetzt nicht zuerst lesen), die es rechtfertigt, eher von einer Novelle zu sprechen, ja es könnte auch eine Parabel sein.
Das Buch ist auch eine Pflichtlektüre für diejenigen, die allzu leichtfertig über Flüchtlinge reden oder gar repektlos noch Angst vor ihnen machen. Viele von ihnen haben äußerste Respektlosigkeit in Religionsfragen mit Gefahr für Leib und Leben ertragen müssen. Diejenigen, die ihnen nicht helfen wollen, spielen ihren Widersachern in die Hände. In diesem Sinne plädiert Livaneli nicht nur zwischen den Zielen für mehr Respekt gegenüber den Religionen und als Mehmets Vater Fuat ihm von der Harese erzählt, ein arabischer Begriff für Gier oder Habgier, den er mit dem Kamel erläutert, das auf einer Distel sich das Maul blutig kaut und immer mehr davon haben will und schließlich verblutet: „Man berauscht sich am eigenen Blut.“ (s. 48) Fuat erklärt Ibrahim auch die Religion der Jesiden und er berichtet wie alle Hüseyin vor der Verbindung mit Meleknaz gewarnt haben.
Ibrahim wird nur noch neugieriger und möchte herausbekommen, wieso Hüseyin so von Meleknaz so beeindruckt war und er macht sich auf die Suche sie zu finden. Alle die er auf seiner Suche trifft erklären ihm – und dem Leser – immer mehr über die Situation der Jesiden. Je mehr Ibrahim über die schwarzhaarige, sehr dünne Meleknaz und ihr blindes Baby erfährt, umso mehr möchte er sie endlich treffen. (S. 85, 145) War sie für Hüseyin eine Harese gewesen? (S. 69)
So aufregend seine Story auch ist, so wenig kann er bei seinem Ressorleiter damit landen, niemand versteht seine Suche nach Meleknaz. „Mein alter Freud hatte mir die Augen geöffnet, wie sehr wir an der Schizophrenie litten, mit dem Verstand im Westen, mit dem Herzen aber im Osten zu sein, wie sehr es uns daher an echtem Selbstvertrauen mangelte, ein Defizit, das wir mit fremden Wörtern und fremden Waren zu überwinden suchten und mit dem steten Bemühen, anders zu sein, als wir eigentlich waren.“ (S. 148) Wir wissen zu wenig vom Nahen Osten, genauso wenig wie man im Nahen Osten andere Religionen respektiert. Ibrahim hadert mit sich. Er ein Orientale, der sich (zu) lange mit einem europäischen und amerikanischen Lebensstil eingelassen hat. Er sucht Meleknaz und ist auf auf der Suche nach sich selber.
Findet er sie? Verfällt er ihr auch oder wird es ihm genügen, mit Ihr über Hüseyin zu sprechen.?
Alle Personen in dieser Novelle stehen für ihre eigne Geschichte, ihre eigene Verwurzelung in der jeweiligen Region, viele erzählen von ihrer Religion, Mit viel Feingefühl entwickelt Livaneli die religiösen Probleme von Minderheiten, er berichtet von ihrer grausamen Verfolgung, dem fehlenden Respekt, die Ich-Bezogenheit, mit der viele nur Respekt für ihre eigene Religion einfordern, die Pflöcke sind sorgfältig gesetzt, die Verbindungslinien logisch gezogen, eine zweite Hälfte des Romans hätte das Gesagt kaum mehr präzisieren können. Er erzählt, analysiert und vermittelt so einen tiefen Eindruck in einen Gesellschaft in großem Aufruhr.
Zülfü Livaneli
> Unruhe
Roman
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
1. Aufl. 2018, 169 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-96267-3
> Sternstunde im Literaturhaus: Zülfü Livaneli sang für Stuttgart – 24. Oktober 2008
> Ein Gespräch mit Zülfü Livaneli, Glückseligkeit – 19. Oktober 2008
In unserem > Lesebericht: Zülfü Livaneli, Glückseligkeit – 14. September 2008 hieß es: „Dieses Buch ist ein echt interessantes Beispiel für einen Roman, der seine Leser über die Verhältnisse im Land des Autors aufklärt. Ohne Zweifel. enthält Livanelis Roman > Glückseligkeit auch viel Kritik des Autos an überkommenen antiquiert wirkenden Traditionen wie besonders die Absicht der Familie Meryems, die vergewaltigte Tochter, die die Ehre der Familie beschädigt hat, nicht weiter leben lassen zu wollen. Die Geschichte beginnt in einem Dorf in Ostanatolien und führt auf einer langen Reise in einen Vorort von Istanbul, wo Tradition und Aufbruch heftigst aufeinanderstoßen. In Ostanatolien entdeckt der Leser die Geschichte der Familie Meryems, ihr traumatisches Erlebnis, das die Stellung der Frau in der Gesellschaft ihres Dorfes und damit auch die Widersprüche, die daraus entstehen, nur noch krasser hervortreten lässt.“