Gerade ist der Roman > Mitgift von Henning Ahrens bei Klett-Cotta erschienen.
Seit sieben Generationen gibt es den Hof der Leebs in der niedersächsischen Provinz. Widrige historische Umstände gelten nicht, das Familienerbe muss gepflegt werden, auch wenn Einzelne dafür zurückstecken müssen. Wie Einzelschicksale das gemeinsame Erleben bestimmen, wie Empfindlichkeiten über Jahrzehnte hinweg Wunden nicht schließen und wie die ländlich-bäuerliche Welt inmitten der Verwerfungen des 20. Jahrhunderts zu überleben versucht, das sind die Themen dieses Romans.
In der ersten Szene werden Erinnerungen aller Art evoziert. Wilhelm Leeb senior bittet 1962 die Totenfrau Gerda Denking noch einmal tätig zu werden. Sie verweigert zunächst ihre Dienste, sie hatte beschlossen, die Toten nicht mehr herzurichten und das Geschäft dem Peiner Bestatter zu überlassen. Zunächst wird uns nicht berichtet, wer der Tote ist.
Rückblende. 1945 werden auf dem Hof der Leebs die NS-Devotionalien hastig in die Jauchegrube geworfen, damit es keine Probleme gibt, wenn die Amerikaner auf dem Hof eintreffen. Auch Gewehre und andere Waffen landen dort drin. Der Sohn von Magda Leeb ist in Gefangenschaft. Wilhelm wird erst nach vier Jahren zurückkommen. Er hat im Krieg zunächst Karriere gemacht und war u. a. Landwirtschaftsführer, dann aber musste überhastet den Rückzug antreten.
Im Mai 1940 scheint die Welt auf dem Hof der Leebs scheint noch so halbwegs in Ordnung, aber der Schein trügt. Wilhelm ist neun, seine Schwester Gerda ist vier Jahre jünger und da ist noch Bruno ihr kleiner Bruder. Das Gewitter eint alle in der dunklen Diele und Magda spricht das Gebet, das Haus und Hof vor dem Blitzschlag bewahren soll. Da fährt der alte Leeb aber dazwischen und erinnert Wilhelm an seine Pflichten als Hitler-Junge.
Zurück bei Gerda Denking, die sich erst mal mit dem Gedanken vertraut machen muss, dass Wilhelm Leeb Senior sie gerufen hat: Im Dorf kennt man den Zwist zwischen Vater und Sohn: „Seien sie nicht so etepete, sagt Trude zu Magda: „Das sind nun mal die nackten Tatsachen. Der eine gönnt dem anderen nichts. Die beiden sind sich spinnefeind.“ (S. 74) Sie hat wohl noch nicht verstanden, dass der Senior und nicht der Sohn Gerda geholt hat.
Es nicht nur die Generationen, die aufeinander folgen, die einzelnen Personen sind es, die die Kontinuität, die Familienbande bewahren und die Tradition um welchen Preis auch immer sichern. Schwarze Schafe sind auch unter ihnen, so wie der Onkel von Carl Wilhelm Leeb der im 19. Jahrhundert den Hof der Hermannsburger Mission vermachte und der nun zurückgekauft werden muss. Seine Eltern verheiraten ihn mit Magda, schließlich muss die Zukunft des Hofes gesichert werden.
Noch weiter zurück. Im Februar 1755 sitzt Hans Wilhelm Leeb bei Kerzenschein und schreibt an seinem christlichen Lehrbuch, das er für seine Nachfahren verfasst. Seine Tochter Eleonore kann nicht schlafen, möchte dem Vater zusehen und wird von ihm grob des Raumes verwiesen: der Gegensatz zwischen christlicher Nächstenliebe und harter Disziplin.
Die Generationen kommen und gehen. Eigentlich soll die Kontinuität des Hofes gesichert werden. 1864 setzt sich Wilhelm August es sich in de Kopf sein Hab und Gut an die Mission in Hermannsburg zu vererben. Wie angedeutet wird der Hof später zurückkauft.
Aber in anderer Form kommen Zwist, Zwietracht, Eifersucht immer wieder zurück, wenn es um Fortdauer des Hofes geht. Ahrens gibt einen tiefen Einblick in die Seelen und deute die Beweggründe für Zwänge, denen alle die, die für den Hof verantwortlich zeichnen, unterworfen sind. Manchmal entsteht gar der Eindruck, dass die wirtschaftliche Entwicklung des Hofes hinter die Bedeutung der Charaktere für das Funktionieren des Hofes zurücktritt. Andererseits werden sehr wohl die Mühen geschildert, mit denen die Familie ohne den Vater während seiner vierjährigen Gefangenschaft, ihr und das Überleben des Hofes inmitten des schwierigen Neuanfangs so erfolgreich sicherte. Wilhelm kommt zurück: „Was ich ab jetzt tue – das allein zählt. Nur das. Hast du verstanden, mein Sohn?“ Keine Widerrede, kein Widerspruch: „Eine beklemmende Stille.“ (S. 258) Dann folgt die Begehung des Hofes. Gedemütigt, verzieht sich Wilhelm auf den alten Dachboden mit den vielen Erinnerungen aus zwei Jahrhunderten. Für den Sohn bricht ein Martyrium an, der Vater herrscht und bestimmt alles.
Henning Ahrens ist es vorzüglich gelungen, die Familiengeschichte anhand der Vorgänge 1962 aufzuschlagen, und mit den Erzählungen über frühere Generationen zu vertiefen. dabei werden Beweggründe der Vorfahren erkennbar, auch manche parallelen und mit feinem Gespür geht er dem Einfluss historischer Umstände nach und deutet auch an, wie in bestimmten Konstellationen die Initiativen und die Überzeugungen Einzelner dem Hof und damit allen zugutekommen.
Henning Ahrens
> Mitgift
Roman
Klett-Cotta
1. Aufl. 2021, ca. 352 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98414-9