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Lesebericht: Lieke Marsman Das Gegenteil eines Menschen

Verfasst von Heiner Wittmann
25.11.2022

Ida ist Klimawissenschaftlerin und nutzt ihre Reise in die norditalienischen Alpen sowie die nahende Klimakatastrophe, um ihr eigenes Leben, die Verhältnisse, in denen sie lebt, sowie ihre Freundschaft einmal ganz grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen. Eine Nachdenken über ihre eigene Zeit, das auch unser Nachdenken über unsere Zeit anregt.

Von den Klimafragen springt sie zu ihren persönlichen Problemen und lässt den Leser an ihnen teilnehmen. Sie zieht uns mit ihrem Roman in ihren Bann. So ist es doch auch bei uns, die Klimaprobleme sind weit weg, am Nord- oder Südpol oder da oben in den Alpen, jedenfalls haben wir alle damit nicht so recht etwas zu tun. Und doch bricht das Klimaproblem ganz direkt in ihr Leben und das des Lesers ein, als sie das Praktikum bekommt und die klimatischen Veränderungen dort oben in den italienischen Alpen am Staudamm, der vor der Sprengung steht, erkunden soll. Sie erinnert sich an die Klimavorlesungen, zitiert ausführlich aus ihnen, lässt auch den Leser spüren, dass da etwas ist, dem man sich nicht wird entziehen können.

Lieke Marsman weiß genau, welche stilistischen Register zu ziehen sind, um die Verbindung zwischen persönlichen Problemen und der Weltlage da draußen herzustellen. Die Sache mit der Sprengung des künstlichen Staudammes bringt auch ihre eigene Beziehung zu Robin durcheinander; sie sehnt sich nach ihr, findet aber bei Ihr keine so rechte Gegenliebe.

Zu Marsmans stilistischem Vokabular gehört ihr beeindruckendes Vermögen, ihren  Roman in einen Essays zu kleiden, der die Probleme nacheinander erforscht und sie höchst subtil ganz gekonnt miteinander verbindet. Man muss ihren ganzen Roman lesen, um diesen Stil zu entdecken. Eine Lesung einzelner Abschnitt wird gerade dieser Kunstfertigkeit, die den Roman so entscheidend prägt, kaum auf die Spur kommen.

Zum Verhältnis von Klima und eigenen Problemen, die augenscheinlich nicht miteinander korrespondieren, wenn auch die Klimafragen indirekt ihr persönliches Schicksal beeinflussen, kommt auf einer etwas höheren Ebene das Verhältnis von Mensch und Natur. Und darin steckt ein Schlüssel zum Verständnis dieses Romans.

„Nichts ist einfacher als sich selbst zu verlieren.“ (S. 85) Aphorismen wie diese prägen ihren Stil und ihre Entdeckungslust. Aber auch Einsichten wie diese „Wer gegen den Klimawandel kämpft, – so zitiert sie aus einer Vorlesung – weil er die Menschheit um jeden Preis retten will, übersieht, dass uns gerade dieses Der Mensch-über-alles-Denken das Problem überhaupt erst eingebrockt hat.“ Also muss neben aller naturwissenschaftlicher Fachkompetenz auch die Philosophie befragt werden, denn wir versuchen immer noch, den Klimawandel, wie Marsman immer noch von einem auf den Menschen zentrierten Weltbild aus zu verstehen, was uns den Blick über den Tellerrand hinaus gar nicht erlaubt. Und in der Vorlesung wird auch gesagt: „Daneben gilt es zu begreifen dass auch der Klimawandel – so komplex und vage er sei mag – ein Objekt ist.“ Und der Professor fügt hinzu: Ein Objekt, das imstande ist, uns alle zu vernichten.“ (S. 140)

Marsman macht Anleihen bei bekannten Autoren (S. 183 ff) und lässt so die Eckpunkte des Klimawandels mit seinen gravierenden Folgen auf uns zukommen und notiert nebenbei wie sich ihr Schicksal und damit das unsrige sich diesem Wandel nicht wird entziehen können.

Beteiligte Personen

Eva Beeftink

Lieke Marsman

Lieke Marsman, geboren 1990 in den Niederlanden, gehört zu den wichtigsten literarischen Stimmen ihrer Generation. Sie veröffentlicht Prosa, Lyrik und Ess...

Lieke Marsman, geboren 1990 in den Niederlanden, gehört zu den wichtigsten literarischen Stimmen ihrer Generation. Sie veröffentlicht Prosa, Lyrik und Essays. Ihr Debütroman, »Das Gegenteil eines Menschen«, der 2017 in den Niederlanden erschien, war für den ECI Literaturpreis nominiert und erregte enormes Aufsehen.

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