Lesebericht:
Christian von Aster, Der letzte Schattenschnitzer

Soviel ist sicher, meinem Schatten begegne ich künftig mit mehr Respekt. Bis jetzt lief er halt immer nur so mit oder her, neben mir, mal hinter und vor mir. Gestern habe ich mich beim plötzlichen Umdrehen, um zu gucken, ob der schwarze Gefährte mir auch wirklich folgt, ertappt. Außergewöhnliches habe ich an ihm nicht feststellen können, er war da wie immer. Bei der Lektüre verhält sich mein Schatten ganz normal. Aber er macht viel mehr, als ich jemals vorher geahnt habe und hinzu kommt die Lektüreerfahrung des Buches Der Schattenschnitzer von > Christian von Aster, das jetzt gerade in der Hobbit Presse von Klett-Cotta erschienen ist. Ein Fantasyroman, der den Leser in eine ganz andere Welt mitnimmt und ihm ganz neue Horizonte eröffnet. Alles gar nicht wahr, sagt man sich nach ersten Kapiteln und doch entwickelt von Aster mit seinem Buch eine Suggestionskraft, der man sich nicht so einfach entziehen kann. Widerspruch ist kaum möglich, zu rasant entwickelt sich die Geschichte. Die Perspektivenwechsel tragen dazu bei, genauso wie die Welt der Schatten eine ganz Organisation dem Leser vorstellen, deren inneres Machtgefüge ins Wanken kommt, weil einige wenige ausscheren. Heute sprechen wir viel von globalem Gleichgewicht, wohl wissend, dass damit der Nord-Süd-Konflikt keineswegs gelöst ist. Die Gefahren globaler Machtverschiebungen sind ganz real und diejenigen, die in die Geheimnisse des Schattenreichs mit seinem prekären Gleichgewicht eingeweiht sind, wissen um die Gefahren, sollte dieses Gleichgewicht dereinst gestört werden.

Jonas Mandelbrodt ist ein gelehriger Schüler seines Schattens. Natürlich bekommt Jonas mit seinen Fähigkeiten in der realen Welt nur Schwierigkeiten. Dort oben ahnt aber niemand etwas von seinen überragenden Kenntnissen, weil seine Eltern, seine Lehrer und Mitschüler ihn nur mit ihrem eigenen Horizont beurteilen und verstehen. Schattenschnitzer und ähnliches, wird Jonas ihnen nicht erklären, wie sollten die das auch verstehen. Jonas käme auch nie auf den Gedanken darüber etwas verlautbaren zu lassen. Das ist eine Sache zwischen ihm und seinem Schatten, bis sich allerdings die Ereignisse im wahrsten Sinn des Wortes überschlagen. Die Geburt von Carmen Maria Dolores Hidalgo, deren Schatten vergeblich gesucht wird, gibt der Entwicklung einen weiteren unheilvollen Schub. Da stimmt etwas nicht. Wer hat sich ihres Schattens bemächtigt?

George Ripley hatte einst einen künstlichen Schatten geschaffen, das Eidolon, dessen Besitz Macht sichert und Furcht vor einem Dissidenten einflößt, der das Wissens um die Schattenkunst zu seinem persönlichen Vorteil und zum Nachteil der gesamten Schattenorganisation nutzt, und so das Gleichgewicht in der Welt in Frage stellt. Das kann der Rat der Schatten sich nicht gefallen lassen und ergreift sofort Gegenmaßnahmen, die nicht unbedingt die Situation nur verbessern.

Auf vielen Seiten wird auch mit der Unterstützung alter Dokumente und den Aussagen der Schatten selber die Funktion und die Gesetze dieser geheimnisvollen Welt dem Leser in Ansätzen offenbart. Alles erfährt er natürlich, kann sich aber weitere Einzelheiten verstehen, sobald die Schatten in Kontakt und Konflikt mit den Menschen treten. Diese Passsagen sind besonders spannend, weil sich hier die Schatten dem Zugriff der Menschen entziehen und mehr als eine Eigenleben entwickeln.

Schatten vermehren auch das Wissen. Sie sind für Lehre und Bildung zuständig. Nebenbei klärt von Aster die uralte Frage, wie Informationen weitergetragen werden. Je mehr Einzelheiten der Schattenkunst bekannt werden, umso größer werden die Gefahren für alle. Die Schatten realisieren aber auch einen uralten Wunschtraum der Menschheit. Je est un autre, sagte Rimbaud, und meint damit mehr als nur die Freiheit des Individuums, die stete Entwicklung, die dauernde Veränderung, die Bereitschaft, die Welt von einem ganz anderen Standpunkt aus zu sehen. Von Asters Buch ist ein vorzüglicher Anlass die Welt mal von einer ganz anderen Seite aus zu sehen und sich bei der Lektüre ganz drauf einzulassen.

> Vorgefragt: Christian von Aster, der Schattenschnitzer mit einem Video-Interview

Christian von Aster,
> Der letzte Schattenschnitzer
Klett-Cotta
ISBN: 978-3-608-93917-0