Das Internet ist nicht das Ende der Bibliotheken

Unter der Überschrift > Weg mit den Büchern! stand am Sonntag, 7.2.2016 in der NZZ ein Interview mit Rafael Ball, seit 2015 Direktor ETH-Bibliothek in Zürich. Er meint, das Internet mache Bibliotheken überflüssig. Er gibt sich entschlossen: „Bibliotheken müssen ihr Geschäftsmodell radikal ändern. Wer das nicht tut, der wird in den nächsten 20 Jahren verschwinden.“

Seine Geringschätzung des Buches und sein grenzenloses Vertrauen in die Untiefen des Internets können als einfache Provokation, ein Appell an Bibliotheken, mal über den Tag hinauszudenken und sich in ein total digitalisiertes Zeitalter zu versetzen, verstanden werden. In diesem Fall bräuchten wir gar nicht besonders darauf zu antworten.


> Lesebericht: Johann Friedrich Cotta, Ein Leben für die Literatur – 11. Mai 2009 von Heiner Wittmann >>>

„Vom 1. Dezember 1787 bis zu seinem Tod am 29. Dezember 1832 hat Johann Friedrich Cotta die J. G. Cotta’sche Buchhandlung geführt. Dreiundzwanzig war er, als er den Verlag mit zwanzig Gulden in der Tasche übernahm. Peter Käding hat über ihn und seine Verlegerkarriere eine wundervolle Biographie verfasst: > Johann Friedrich Cotta. Der Verleger der deutschen Klassik: Die Hand über der ganzen Welt.…“ Wie flüchtig wären die die Titel seines Verlages als E-Books gewesen, das gedruckte Wort hat seinem Unternehmen und den von ihm betrauten Autoren diesen Erfolg beschert.


Es gibt eine andere Lesart der Antworten von Rafael Ball, und die verlangt eine Stellungnahme. Rafael Ball spielt in seiner Antwort mit dem gedruckten Wort, das heute in einem Buch eine andere Würde und eine besondere Form der Freiheit für sich in Anspruch nehmen darf als das flüchtige, schnell – manchmal auch zu Unrecht – eingescannte Wort. Auf die Frage „Brauchen wir noch Bibliotheken,“ antwortet er: „Nein, in ihrer heutigen Form nicht. Bibliotheken machten ja bisher nichts anderes, als für die Menschen Inhalte zu sammeln. Dieses Konzept funktioniert heute nicht mehr. Jetzt ist das Internet da. Wer Inhalte sucht, braucht keine Bibliothek mehr.“ Kein Historiker, kein Philosoph, kein Germanist, kein Romanist, kein Politikwissenschaftler kann heute eine wissenschaftliche Arbeit schreiben, wenn er sich auf die vermeintlichen Segnungen des Internets mit seiner schon recht beachtlichen Menge an digitalisierten Büchern und Dokumenten jeder Art verlassen soll. Über > Sartre können Sie kein Buch schreiben, wenn alle Bibliotheken geschlossen sind und Sie sich mit den heutigen Ressourcen des Internets zufriedengeben müssen. Ohne Bibliotheken und Archive, nur mit dem Blick auf den Bildschirm und in die Weiten des Internets hat wissenschaftliches Arbeiten keine Zukunft mehr, noch lange keine neue Zukunft, die sich Rafael Ball vorstellt. Die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung steht auf dem Spiel. Wer Ergebnissen von Suchmaschinen traut ist verloren.

„Das Informationsmonopol der Bibliothek ist gekippt. Wer heute einen Internetanschluss hat, aber keinen Zugang zu einer Bibliothek, ist potenziell gebildeter als jemand mit einem Bibliothekszugang, aber ohne Internetanschluss.“ Würde das stimmen, wäre das Internet das erträumte Eldorado, das Allheilmittel für jedes Bildungsproblem. Das ist es aber nicht, davon sind wir Lichtjahre entfernt, und Rafael Ball stellt uns lediglich seine grenzenlose Überbewertung des Internets vor.


>„Stellen wir uns eine Schulklasse oder Kurs mit 12 Schülern in der Oberstufe vor. Teilen wir die Klasse. Die eine Hälfte (Gruppe 1) erhält zwei oder drei interessante Texte zu den deutsch-französischen Beziehungen, … und die Aufgabe, einen Text in Form eines Éditorial zu verfassen, um einige Grundprobleme der deutsch-französischen Beziehungen darzulegen….“

Das gleiche Experiment können Sie auch in jedem Seminar wiederholen. Mit dem Internet können die wenigstens Hausarbeiten geschrieben werden.

> Tippen Sie auf der Tastatur oder schreiben Sie mit der Hand?


Bücher sieht Ball nur noch im „Bereich der Leseförderung“, Dort „ haben Bibliotheken eine Aufgabe. Man kann das aber an die Schulen verlagern und dort Bücher zur Verfügung zu stellen.“ Und warum soll das nicht auch für die Universitäten gelten?

Nota bene, es gibt Fachrichtungen, die könnten sich mit den vorhandenen digitalisierten Ressourcen, die per Intrnet erreichbar sind, zufriedengeben. Viele technische Themen gehören dazu; vor allem Themen, für die keine Literatur aus dem Zeitalter vor der Einführung des PCs vorhanden ist. Meine Lieblingsbibliothek > www.gallica.de der BnF in Paris stellt mittlerweile schon u.a. 635.000 Bücher, 1,5 Mio Zeitungen, 40.000 Partitionen und rund 35.000 Tonaufnahmen zum Download zur Verfügung und kann so tatsächlich für den Forscher auch geisteswissenschaftlicher Richtung – auch für den der eine Arbeit über > Napoleon III. schreibt eine echte Hilfe sein, eine gute Hilfe, aber mehr auch nicht. Es ist aber nur ein Bruchteil der Ressourcen, die die Bibliothèque Nationale de France BnF und andere >Online-Bibliotheken in Frankreich und Deutschland zum Beispiel für Geschichte anbieten.

Alle Bücher einscannen, das ist auch der Traum von Google, das keinen juristischen Weg in den USA ausläßt, um sich doch noch erlauben zu lassen, alle Bücher einscannen und zum Durchsuchen bereitzustellen > US-Gerichtsentscheid : Google darf Bücher digitalisieren – DIE ZEIT 15. November 2013. Google bedient sich an fremden Rechten, tut so als wäre es ein Wohltätigkeitsverein, der den Autoren hilft, ihre Bücher bekanntzumachen. In Wirklichkeit nutzt Google urheberrechtlich geschützte Inhalte, um seine Werbe-und Marktmacht ins Grenzenlose weltweit zu seinem eigenen Wohl auszudehnen. Der Google Algorithmus bestimmt schon heute, welches Buch oben angezeigt wird, die meisten Bücher verschwinden so im Nirwana des Internets.


Die digitale Welt auf unserem Blog:

> Wissen und Nicht-Wissen im digitalen Zeitalter und das Ende der Zeitung

> Digital und kostenlos? Open Access

> Schwerpunkt: « Die Gegenwart des Digitalen »
Merkur 788 – Januar 2015 im neuen Gewand


Sollen öffentlich geförderte Forschungsergebnisse wirklich kostenlos sein?

Das Wort „Urheberrecht“ scheint Ball unbekannt zu sein. Noch darf der Urheber, bzw. seine Erben bestimmen, wo und wann ein Manuskript veröffentlicht werden darf. Internet bedeutet nicht grenzenlose Verfügbarkeit geistigen Eigentums.

Rafael Ball hat eine merkwürdige Vorstellung von einem Geschäftsmodell für die Zukunft der Bibliotheken. Gemeindebibliotheken sollen zu Kommunikationszentren werden, die den Zugriff auf elektronische Inhalte ermöglichen. Wissenschaftsbibliotheken wie die ETH sollen Wissenschaftler beraten, z. B. beim Publizieren von wissenschaftlichen Artikeln. Ball meint auch, die Bibliothek könne „massgeschneiderte Programme entwickeln, damit Wissenschaftler die riesigen Mengen an Literatur zu ihren Fachgebieten nach exakt jenen Informationen durchsuchen können, die für sie relevant sind.“ Will er Google nachbauen? Eigentlich sollte ein Wissenschaftler selber über die Kriterien entscheiden, was für seine Arbeit wichtig sein wird. Sollen etwas Bibliothekare in elektronischer Form eine Auswahl der Sekundärliteratur am besten noch mit dem passenden Zitat zur Verfügung stellen, die in die Hausarbeit übernommen werden? „Bibliotheken werden zu Analysezentren,“ sagt Rafael Ball.
Er will alle Bücher digitalisieren… ob er wirklich alle Schätze jeder Bibliothek meint? Dann wird tatsächlich, der Computer das Erstellen der Bibliographie übernehmen mit allen Möglichkeiten (staatlicher) diverser Autoritäten die Ergebnisse zu steuern.

Rudolf Mumenthaler > Sind Bibliotheken überflüssig? Eine Replik