Jean Améry und Jean-Paul Sartre

Jean Améry, Werke, Band 4Bei der Vorbereitung meines Vortags in Fredericksburg/Virgina am 5. April bei der > amerikanischen Sartre-Gesellschaft habe ich die Aufsätze von Jean Améry über Sartre wiedergelesen. Sie stehen in der > Band 4 der Gesamtausgabe, der > Werke Amérys, die Irene Heidelberger Leonhard bei Klett-Cotta herausgibt. Dieser Band enthält den Text Charles Bovary, Landarzt, in dem sich Améry sehr eingehend mit der Flaubert-Studie Sartres beschäftigt. Auf 2801 Seiten hatte Sartre in der 1971/72 erschienenen Studie Der Idiot der Familie. Das Leben des Gustave Flaubert von 1821-1857 die Werke Flauberts untersucht, um herauszufinden, wie dieser sich in die Lage versetzt hatte, Madame Bovary. Mœurs de Province schreiben zu können. Der Band 4 enthält Aufsätze von Améry über Sartre und Flaubert: In die Welt geworfen. Jean-Paul Sartre (1955), Die Wörter Gustave Flaubert. Über Jean-Paul Sartres ‚L’Idiot de la famille‘ (1971), die Stunde des Romans. Zum 150. Geburtstag des ‚Meister der Bovary‘, Gustave Flaubert, am 12. Dezember (1971) und schließlich Sartre: Größe und Scheitern (1974). Von diesem letzten Aufsatz möchte ich hier in aller blogmäßig gebotenen Kürze berichten. So wie auch der Titel dieses Aufsatzes lautet, geht es um die Größe Sartres und gleichzeitig um sein Scheitern. Bedingt beides einander? Zu diesem Urteil scheint Améry zu tendieren, wie sollte man auch sonst den ungeheuren intellektuellen Einfluß Sartres und gleichzeitig seine politischen Fehlurteile in den Griff bekommen? Aber man muß genau hinsehen. Sicherlich kann man Phasen in seinem Werk erkennen, Améry meint, Sartre habe „den jeweils vorangegangenen Sartre demoliert.“ Politisch mag das zutreffen, aber gerade hinsichtlich der Konzepte, wie z. B. das Projekt, die Wahl und das Überschreiten und vielen andere, die er in den vielen Porträtstudien anwendet, die ist eine ungleich stärkere Kontinuität – Entwicklungen nicht ausgeschlossen – als in seinem politischen Denken zu erkennen. Amérys Bemerkungen zu Das Sein und das Nichts (1943), „die ontologische Fundierung des Subjekts in seiner Auseinandersetzung mit der dinglichen Welt und mit dem Anderen.“ (Améry, Band 4. S, 249), streifen nur kurz den Kern dieses ersten philosophischen Hauptwerks Sartres. Es geht darum, daß der Andere meine eigenen Pläne durchkreuzen kann. Später hat Sartre diese Überlegungen um die notwendige gesellschaftliche Dimension in der Kritik der dialektischen Vernunft (1960) ergänzt. Die Versuchung ist groß, hier mehr und viel länger über die Klarheit der Aufsätze Améry zu schreiben, mit der er seine Bewunderung für die Intelligenz Sartres gar nicht verbergen will, aber auch eine zunehmende Skepsis erkennen läßt, mit der Améry Sartres Selbstpreisgabe des eigenen „Prestige als geistiger Repräsentant der Nation“ bedauert. Dennoch hält Améry die Flaubert-Studie „diese riesige,autobiographisch inspirierte Gedankendichtung mit ihren dramatischen Höhepunkten“ für Sartres größtes Werk.

Jean Améry, Werke, Band 6Im 6. Band Der Werke von Jean Améry > Aufsätze zur Philosophie stehen noch zwei weitere Aufsätze, die trotz der Kürze des Blogbeitrags hier erwähnt werden müssen: Jean-Paul Sartres Engagement (1968) und Jean-Paul Sartres ‚Kritik der dialektischen Vernunft‘ (1968) („Von einem Werk ist hier die Rede, das selbst zur Bekräftigung der in ihm ausgesprochenen dialektischen Wahrheit ist: dass nämlich Tun nur Tun sein kann, insofern es zugleich Verstehen und Tun ist, und Verstehen nur dann zum selbstgesetzten Ziele gelangt, wenn es zum Tun wird.“ S. 68). Die Aufsätze Amérys über Sartre vermitteln neben argumentativer Feinmechanik auch eine Einschätzung der Bedeutung des Gesamtwerks hinsichtlich der Wirkung seiner Philosophie und seiner Literaturkritik aber auch Hinweise auf seine politischen Grenzen.

Jean Améry, Werke, Band 4, Charles Bovary, Landarzt; Portrait eines einfachen Mannes, hrsg. v. von Hanjo Kesting, Stuttgart 2006, 402 Seiten. ISBN: 978-3-608-93564-6

Jean Améry, Werke, Band 6, Aufsätze zur Philosophie hrsg. v. Gerhard Scheit, Klett-Cotta, Stuttgart 2004, 651 Seiten. ISBN: 78-3-608-93566-0