Historikern ist dieses Gefühl nicht unbekannt. Sie entdecken ein neues Thema, jemand erzählt ihnen davon, die Neugier keimt auf, andere Themen werden erst mal zurückgestellt, das neue Thema wird untersucht, man sucht bibliographische Angaben und entdeckt kein Standardwerk, evtl. hier und da verstreut einen Aufsatz, der das Thema streift. Und dann kommt der Moment, an dem das Thema den Historiker gepackt hat, er will nun „wissen, wie es eigentlich gewesen.“ Dann beginnt der Gang in die Bibliotheken und in die Archive. Übersetzer für Dokumente mehrerer Sprachen werden benötigt. Da kann solch eine Forschungsarbeit schon mal gut und gerne 10 Jahre dauern, bevor das Manuskript nach etlichen Korrekturvorgängen in den Druck gehen kann. Genau das ist David Motadel, Professor an der London School of Economics, passiert, als er sich für das Dritte Reich und den Islam zu interessieren begann. Jetzt ist sein Band in der Übersetzung von Susanne Held und Cathrine Hornung auf Deutsch erschienen: Für Prophet und Führer. Die islamische Welt und das Dritte Reich.
Ob ich als Lektor ihn von fast 600 Seiten, 400 Seiten Text, dann Bild- und Kartennachweise, Fußnoten und Personenregister hätte abbringen können? Eher nicht. Bedenkt man die große Zahl an Archiven, S. 400-402, die Motadel besucht hat, dann hat er wahrscheinlich schon gekürzt, um in diesem Umfang seine Erkentnisse präsentieren zu können. Herauskommen ist ein faszinierender Überblick über eine ganz unbekannte Seite des Dritten Reichs. Es mag ja jetzt eine Partei im Bundestag geben, die glaubt, alles sei zu der Nazidiktatur gesagt. Weit gefehlt, das ist nur Gerede aus parteipolitischem Interesse. So wie jüngst Sven Felix Kellerhoff mit seinem Buch einen weiteren Baustein zum Verständnis der Nazipartei > Die NSDAP. Eine Partei und ihre Mitglieder beisteuerte, so wird Motadels Buch als Standardwerk auch seinen Platz auf dem Regal zum Dritten Reich einnehmen.
Zuerst geht es um die Muslime in der Kriegspolitik von den Ursprüngen bis zu den Grundsätzen der NS-Islampolitik. Das intensive Quellenstudium Motadels erlaubt ihm, die Situation der Muslime in den Kriegsgebieten von Nordafrika bis zur Ostfront und auf dem Balkan en détail zu beschreiben. Den dritten Teil seiner Untersuchung widmet der Autor ausführlich den Muslimen in der Armee, ihre Mobilisierung und dem Islam und der Militärpropaganda. Inhaltlich fand kaum eine wirklich nennenswerte Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Islams statt. Er war für das Dritte Reich nur insoweit interessant, wie er ihm nützen konnte: „In den muslimischen Kriegsgebieten, in Nordafrika und im Nahen Osten, auf der Krim, im Kaukasus und auf dem Balkan präsentierten sich die Deutschen als Freunde der Muslime und Verteidiger des Islam.“ (S. 7)
Es war nur Macht- und militärisches Kalkül, wenn sich das Dritte Reich nach den ersten großen Niederlagen, verstärkt für die Muslims zu interessieren begann: „Um Muslime für die deutsche Seite zu gewinnen, unternahm Berlin große Anstrengungen, den Islam zu instrumentalisieren.“ Unterschiede im Islam? Fehlanzeige. Die deutsche Politik jener Jahre hatte dafür keine Zeit, natürlich auch kein Sensorium, ihr ging es nur um Macht, um mehr Soldaten für die eigene Armee.
Motadel legt einen ausführlichen Überblick der Literatur zu diesen Jahren vor, die die von ihm vorgelegte Fragestellung bisher nur in kleinen Ansätzen, aber nie ausführlich im Blick hatte. Interessant sind einige Kontinuitäten zwischen dem Kaiserreich (S. 24-32) und der Islampolitik während des Zweiten Weltkriegs. Die Dokumente in den Archiven erlauben eine ziemlich genaue Rekonstruktion , wie die Reichsführung den Islam für ihre Zwecke vereinnahmen wollte. Wieder zeigt sich die pragmatische Instrumentalisierung des Islams lediglich zugunsten der eigenen Interessen. Motadel: Für Hitler war Religion kein Selbstzweck, sondern ein Hilfsmittel für die praktische Lebensbewältigung im Diesseits.“ (S. 81) Motadels besondere Aufmerksamkeit gilt der Nazipropaganda, die sich an die Muslims richtete, natürlich ohne gemäß der Zielgruppen zu differenzieren.
S. 93-163: Z.B. das Kapitel 3. „Islam und der Krieg in Nordafrika und im Nahen Osten“ untersucht u. a. die Propaganda der Nazis, kommt aber zum Schluss, dass sie sein Misserfolg gewesen sei. Die erwünschten Aufstände gegen die Alliierten blieben aus. Bemerkenswert ist die Vielfalt der Quellen, die Motadel auswertet, wozu auch ein Bericht von 1942 (S. 161) gehört, der im Auftrag der Deutschen die Behandlung nordafrikanischer Gefangenen untersucht und schwerwiegende Mängel aufzeigt. Das Kapitel „Deutsche Islampolitik an der Ostfront“ (S.164-215) zeigt, wie die Deutschen die Muslime umwarben und auch religiöse Feste zuließen, aber in ihrem Interesse politisch manipulierten. (S. 176) Das Kapitel „Muslime im Kampf um den Balkan“ (S. 216-258) zeigt wie z. B. im November 1942 Muslime die Deutschen um Schutz baten vor Übergriffen, wobei sie gegen „die katholische Kirche, die Orthodoxie der Tschetniks und die Orthodoxie der kommunistischen Partisanen“ wetterten (S. 223)
Im 3. Teil analysiert Motadel die Mobilisierung Hunderttausender Muslime für die Wehrmacht und sogar für die SS, die gegenüber den religiösen Praktiken der Muslime große Zugeständnisse machte. Ausdrücklich verweist Motadel auf die „deutschen Stellen – von den traditionellen Diplomaten im Auswärtigen Amt über die intellektuellen Bürokraten im Ostministerium bis hin zu den technologischen Technokraten im SS-Hauptamt“ (S. 368) die Muslime nicht als Feinde sondern als Verbündete betrachtete. Im Blick war dabei eine weltfremde Vision eines „Weltislams“, die die Ignoranz über die islamische Welt offen dokumentierte. Wie bereits angemerkt,kam es zu keinen Aufständen gegen die Alliierten und Motadel stellt fest, das die deutschen Versuche, den Islam zur Unterstützung für die eigene Politik zu gewinnen scheitern mussten. Motadel sagt wegen „ihrer mangelnden“ Authentizität“ und meint damit, dass das Dritte Reich keine Glaubwürdigkeit vermitteln konnte, ein Schutzherr der Muslime zu werden.
Dieses Buch ergänzt die bekannten Darstellungen zum Dritten Reich und zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs um eine wichtige Dimension. Ein Bündnis mit der islamischen Welt musste scheitern, weil natürlich kein Interessenausgleich stattfand und die Deutschen die Muslime lediglich für ihre eignen Zwecke missbrauchen, nicht nur instrumentalisieren wollten.
David Motadel,
> Für Prophet und Führer. Die islamische Welt und das Dritte Reich
Aus dem Englischen von Susanne Held und Cathrine Hornung (Orig.: Islam and Nazi Germany’s War)
1. Druckufl. 2017, 568 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, mit zahlreichen Abbildungen und Karten
ISBN: 978-3-608-98105-6