Fertig, ausgelesen, 107 Kapitel, 682 Seiten. Eigentlich schade, die Bewohner der Pepys Road im Londoner Süden werden bei der Lektüre so vertraut. Sie haben nicht viele Gemeinsamkeiten, außer dass sie in der gleichen Straße mit den ähnlichen Einfamilienhäuser wohnen. Irgendjemand stört ihre Kreise: „Wir wollen was Ihr habt“ steht auf den Karten, die bei den Bewohnern der Pepys-Road in den Briefkästen landen und sie verunsichern.
Donnerstag, 15. November 2011, 20 Uhr
John Lanchester, Kapital. Lesung und Gespräch
Eine Veranstaltung im Rahmen der Stuttgarter Buchwochen in Kooperation mit der Buchhandlung Hugendubel.
Moderation: Renate Brosch (Institut für Anglistik, Universtität Stuttgart) / deutsche Lesung: Anja Brünglinghaus
Haus der Wirtschaft, Raum Karlsruhe
Willi-Bleicher-Straße 19, 70174 Stuttgart
Eintritt 5 EURO
Um die Lektüre gebührend zu würdigen, habe ich einen Moment mit dem Gedanken gespielt, zwei oder gar mehrere der nächsten Kapitel einfach dazuzuschreiben. Nein, das geht nicht, aber die Idee war nicht schlecht. Kapitel 108 hätte von der Familie erzählt, die in das Haus der Younts einzieht, wie sich mit ihren neuen Nachbarn verstehen, ob ihr das neue Zuhause gefällt. Der Fall mit den ominösen Postwurfsendungen wird am Ende des Romans geklärt. Im Kapitel 109 könnte man nochmal die historischen Perspektive der Pepys Road wieder aufgreifen. und im Kapitel 110 kommen die neuen Eigentümer der Nr. 42.
Mit den vielen kleinen Einzelerzählungen über die Bewohner der Pepys Roas entwirft Lanchester einen mitreissenden Geselllschaftsroman, ein Sittengemälde. Durch ganz verschiedene Umstände in dieser Straße zusammengekommene Bewohner erleben innerhalb eines Jahres alles was „Gentifizierung“ und „Schuldenkrise“ für sie und ihre Nachbarn bedeuten kann. Der Aufsteiger Roger erlebt einen brillante Karriere und einen ebenso schnellen und sehr harten Fall. In Nr. 42 liegt Petunia Howe im Sterben. Späer bekommt der pakistanische Kioskbesitzer wegen Terrorverdachts erheblichen Ärger mit der Polizei. Der senegalesische Fußballaufsteiger Freddy Kamo findet mit seinem Vater in einem Haus der Pepys Road eine Bleibe. Er freut sich auf das Spiel in der Ersten Liga. Aber auch für ihn kommt alles anders.
Die Spannung entsteht durch die geschickte Konstruktion des Romans. Zuerst sind es Einzelschicksale, die nur durch die Zugehörigkeit zur gleichen Straße irgendwie miteinander verbunden sind. Dann ergeben sich bei näherer Betrachtung unter den oder unter einigen Bewohnern subtile Abhängigkeiten. Selten reden die einen über die anderen. Sie beobachten sich eigentlich auch kaum. Der Beobachter ist nur der Leser, den der Autor mit Aufstieg und Fall und einem Gesamtüberblick über die Ereignisse in den Häusern der Pepys Road bekanntmacht, über die auch die einzelnen Protagonisten nicht verfügen. Und doch sind die meisten in schwierigen Situation immer wieder auf sich alleine gestellt. In der modernen Stadtgesellschaft schwindet die Solidarität, könnte der Leser notieren. Kaum jemand nimmt am Nachbarn wirklich Anteil, doch für Freddy interessiert man sich schon, schließlich haben einige gemerkt, dass dieser vielleicht ein Fußballstar werden könnte.
Die Zeitgeschichte mit der Schulden- und Bankenkrise verschont Roger nicht, der doch ganz andere Pläne hatte. Berufliches Pech vertreibt ihn und seines Familie aus ihrem Domizil in der Pepys Road und illustriert die Machtlosigkeit des Einzelnen, gegenüber einer Finanzwelt, die Chancen und heftige Misserfolge zugleich bietet.
Wie kommt es, dass man am Ende der Lektüre dieses Buches das etwas flaue Gefühl hat, der Roman höre mitten im Geschehen auf? Das ist aber eigentlich nicht besonders erstaunlich. Die Erzählung setzt im Dezember 2007 mit dem ersten Teil ein und endet mit dem dritten Teil im November 2008. Ein Ausschnitt, aus einer langen Serie von Ereignissen wird uns präesentiert, eine abgeschlossene Geschichte hat der Autor wahrlich nicht im Sinn gehabt. Dennoch ist eine sehr lesenswerte Chronik der Ereignisse entstanden, die keinesfalls nur für diese Straße gelten. Geschichte ist immer ein Übergang, ein Aufstieg und Fallen. Den einzigen Kunstgriff, den der Autor sich erlaubt, ist Hoffnung, Enttäuschung, Glück, Tod und Karriere als Ereignisse eines Jahres quasi im Zeitraffer zusamengerafft zuhaben, wodurch eine ganz eigentümliche Dynamik entsteht, die die Spannung vorantreibt. Andererseits wirkt diese Abfolge der Ereignisse in der Pepys Road keineswegs unnatürlich oder unmöglich. Der Leser merkt kaum, dass Lanchester eigentlich nur die Bewohner sehr weniger Häuser beschreibt, auch sie stehen ganz gewiss für alle anderen, deren Schicksale kaum weniger dramatische verlaufen.
Hat unsere Gegenwart besondere Kennzeichen, die sie von anderen Epochen unterscheidet? Zeitgenossen bewerten tagesaktuelle Ereignisse immer besonders beeindruckend, auch wenn sie in der Rückschau oft eher banal und gar langweilig sind. Das intensive Mitleben mit den Bewohnern der Häuser, die der Autor uns vorstellt, macht uns für die Zeit der Lektüre auch zu Mitbewohner der Pepys Road, wodurch die Frage, wie der Autor im Roman die Spannung erzeugt, teilweise oder zumindest im Ansatz beantwortet sein dürfte.
> Kapital
Roman, aus dem Englischen von Dorothee Merkel
1. Aufl. 2012, 682 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-93985-9