Marko Martin hat mit > Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens vor allem eine Literaturgeschichte der DDR verfasst, die gerade bei Tropen erschienen ist: Eine Anregung zum Nachlesen mit einer reichen Bibliographie S. 412-415.
Eingeweihte finden dort vieles Bekannte wieder und DDR-Literatur-Neulinge staunen über die Vielfalt. Martin berichtet über Romane, Gedichte, Filme und Theaterstücke und setzt ihre Inhalte in eine Beziehung zur politischen Entwicklung der DDR. Nebenbei erzählt er von den Schicksalen der Autoren, bespitzelt, verfolgt und drangsaliert. Mancher von ihnen findet den Briefwechsel mit Freunden peinlich genau kopiert in seiner Stasi-Akte wieder. Anderen gelingt die Ausreise, aber sie bleiben dem Thema der Auseinandersetzung mit dem Osten treu.
Klar, Martin (19) kann an keiner Bücherkiste vorbeigehen. Als er im August 1990 wieder einmal in einer Bücherkiste, die im Flur vor den Räumen des Schriftstellerverbandes – der Reiner Kunze schon 1976 ausgeschlossen hatte – steht, grabbelt, fragt die Sekretärin ungeduldig: „Sind Sie bald fertig?“ so als ob sie mit dieser Frage einen Schlussstrich unter die DDR-Literatur setzen wollte.
Martins Literaturgeschichte steht im völligen Kontrast zu den leeren Bücherregalen Ost-Berliner-Buchhandlungen, z. B. amAlexanderrplatz in Berlin, die der Autor dieser Zeilen um 1972 besuchte. Martin öffnet ein spannendes Panorama einer Lebendigkeit und Vielfalt der ostdeutschen Literaturszene, die den Leser überrascht und wahrscheinlich zu einem der vorgestellten Bücher auch greifen lässt: Geriet manches aus dem Osten im Westen zu schnell in Vergessenheit? Wohlgemerkt,“Dass die faszinierendsten seiner Kulturleistungen nicht wegen des Parteiregimes oder dagegen, sondern trotz dessen strangulierender Wirkung zustande gekommen waren – als Bücher, Filme, Songs, Gemälde oder Fotografien.“ (S.13) Manches war schon zu DDR-Zeiten verboten und ausgesondert worden: „…eine vierzig Jahre währende staatliche Amputation, die noch heute sprachlos macht.“ (ib.) Angepasst, linientreu oder so geschickt künstlerisch verpackt, so dass die allgegenwärtige Zensur das Werk passieren ließ. Martin liefert Inhaltsangaben, erklärt Bezüge zum Film, zum Theater und berichtet über das Schicksal der Schriftsteller.
Und was entdeckt Martin in der DDR-Literatur? „Genuine DDR-Prägungen aber waren keineswegs mit dem 3. Oktober 1990 verschwunden.“ „Doppelte Ignoranz“ im Westen nennt er westliche Vermutungen „östliche Erfahrungen seien im Zeitalter der Globalisierung anachronistisch geworden…“ (S. 24 f.) Zugleich unterstreicht er, dass die „Spurensuche Ost“ ohne den Westen, „der fast immer präsent war“ nicht erzählt werden könne. (S. 25) Z. B. die Romane von Erich Loest, in denen es darum ging, „warum Normalität sich in einem normierten Staat ungleich anders buchstabiert als in einer freien Gesellschaft.“ (S. 30) Literatur als Anleitung zum Überleben?
Kultur in der DDR, dazu gehört auch die Jugend (wenn auch )… jenseits der Bohème (S. 97 ff.) mit „Pop, ziemlich grenzenlos“ und „Mit Udo Lindenberg gegen die Bonzen“ und „Die Sache mit dem Sex“ und „Punk never dies“ (S. 130 ff): „Als der Punk um 1980 in die DDR kam…“ Die Beziehungen zwischen Jugendkultur und Literatur machen dieses Buch zu einem beeindruckenden Dokument der DDR-Geschichte. Die Punks schickten natürlich die Stasi und Trapos sofort auf die Barrikaden. Katz- und Mausspiel, nein, das war viel ernster und Not macht erfinderisch. Thomas Grund („Kaktus“) richtete seine „Hinterhofproductions“ in Jena im Kohlenkeller der Jungen Gemeinde ein. (S. 134-144) – Das Durchblättern dieses Buches und das Nachlesen der markierten Stellen ist ein wahres Leseerlebnis und lässt einen staunen über das so intensive literarische Leben, das der ständigen Überwachung trotz, die der Literatur aber nie wirklich Herr werden konnte – außer mit ihrem Arsenal ständiger Repression -. Der Verfolgungswahn der Stasi ließ die Schriftsteller erst recht erfinderisch werden.
Gestern hat sich der #Mauerfall zum 31. Mal gejährt. Passend dazu war unser Autor #MarkoMartin (#DieverdrängteZeit) im Gespräch mit #NorbertKron bei #ARTstories.
Das #Werkgespräch kann hier geschaut werden: https://t.co/dCneWFKXwg#tropenverlag #tropen #gegendasvergessen— Tropen (@TropenVerlag) November 10, 2020
Das Kapitel „Coming out – von nahezu allem“ (S. 149 ff.) erzählt u. a., wie 1989 der Fall der Mauer erlebt wurde: Martins Zeitzeuge: Jens Bisky, Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich (2004). Am 9. November startete die Premiere von Heiner Carows Film Coming out im Ostberliner Kino International. Zur selben Stunde saß ich in unserem Wohnzimmer in Bonn und wollte gerade in die Küche gehen. Just in dem Moment sagte Günter Schabowski : „Nach meiner Kenntnis… ist das sofort möglich.“ Ausreise? Aber auch wieder Einreise…? davon hatte er nichts gesagt, aber wenn man rausdurfte, hieß das ja, dass es keine Mauer mehr gebe, also konnte man auch wieder rein: „Die Mauer ist weg,“ sagte ich, als in der Küche angekommen war. Eben war sie noch da und im Dezember sollte ich im Nieselregen mit meinem Doktorvater auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor stehen. Wir ganz allein, nur der DDR-Wachtposten links am Tor beobachtete uns. Alle wissen, wo sie in dem Moment waren, als das DDR-Regime so ganz nebenbei die Öffnung der Mauer ankündigte, als ob sie umgefallen wäre. Von einer Minute auf die andere war plötzlich alles ganz anders. War damit die DDR-Literatur auch Geschichte geworden? Keineswegs, denn wie der Literaturwissenschaftler > Hans Mayer dies so ausdrücklich betont hat: „Innerhalb der DDR, vom Staat her gesehen, hat sich keine Literatur entwickelt, deren Thematik, Arbeitsmethode, künstlerische Ausdrucksform wesentlich unterschieden wäre von den Themen, Arbeitsmethoden und Ausdrucksformen westlicher Schriftsteller.“ (H. Mayer, Die umerzogene Literatur. Deutsche Schriftsteller und Bücher 1945-1967, Berlin 1988, S. 158)
Ein anderer Erzählstrang von Martin sind seine Berichte über Jugendbücher: „Trini, Unku und all die anderen“ (S. 203-233) Alex Wedding mit Ede und Unku, Berlin/Ost 1977, war mit dabei. Sein Buch war Schullektüre und wurde 1981 verfilmt: „Die Lieder die die elfjährige Unku singt, sind … von fröhlicher Zweideutigkeit.“ (S. 205). Marko Martins literarisches Wissen ist beeindruckend und er zeigt ihnen auch, wo und wie in diesen Bücher „verschlüsselte Flaschenpost“ (S. 233) enthalten war.
Überdenkt man alle Titel, die in diesem Buch genannt werden, so war doch ihr Hauptthema, das Beschreiben der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR. Offener Aufstand wurde nicht geprobt, Missliebige(s) wurde sofort vom Regime aussortiert oder mit aller Macht der Stasi beäugt, überwacht und schikaniert. Und doch, da Literatur, wenn sie von etwas erzählt, dies auch immer irgendwie in den Augen der Leser verändert – > Sartre sagt, dazu, wenn eine Sache benannt ist, verliert sie ihre Unschuld und verändert sich – das ist die Kraft der Vorhersage, die zur Literatur gehört. Wenn ein Roman gesellschaftliche Verhältnisse beschreibt, löst er immer ein mehr oder weniger starkes Nachdenken über diese Verhältnisse aus, ein Anstoß zur Veränderung? Blättern Sie dieses Buch nach der Lektüre und ihren Anmerkungen nocheinmal daraufhin durch: Sie werden erstaunliche Entdeckungen machen. Martin regt zur Spurensuche und zum Wiederlesen an.
Marko Martin,
> Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens
1. Aufl. 2020, 426 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-608-50472-9