Lesebericht: Wolfgang Kraushaar, Die blinden Flecken der 68er-Bewegung

Nach dem > Aufschlagen dieses Buches folgt hier der Lesebericht: Wolfgang Kraushaar, > Die blinden Flecken der 68er-Bewegung und danach folgt hier der Artikel Nachgefragt mit einem Video, mit dem wir ein Gespräch mit dem Autor aufr der Frankfurter Buchmesse 2018 für unseren Blog aufzeichnen werden.

Nachgefragt: Wolfgang Kraushaar, Die blinden Flecken der 68er Bewegung

Wie bereits angemerkt, es gab für die Mai-Ereignisse in Paris langfristige und kurzfristige Anlässe. Vorgänge, die zu Protestveranstaltungen ausarteten und das Engagement der studentischen Führer, wie Daniel Cohn-Bendit, der zur Radikalisierung im Mai ganz erheblich beitrug. Dazu gehörte auch die politische Konjunktur, die mit den aufflammenden Protesten gegen den Vietnam-Krieg und die Rassentrennung in den USA in eine breit angelegte Protestbewegung der Jugend mündete, von denen ein Kulminationspunkt der Mai 68 in Paris war. Sein Verlauf mit einem Generalstreik und sein abruptes Ende am 30. Mai mit dem Demonstrationszug der Gaullisten auf den Champs-Elysées fand, kann kaum mit den Ereignissen in Deutschland verglichen werden.

Blinde Flecken mag niemand, zeigen sie doch an, dass man etwas nicht gesehen, geschweige denn verstanden hat. Wolfgang Kraushaar nennt sie in seinem Band > Die blinden Flecken der 68er-Bewegung. Er legt mit der Deutung dieser blinden Flecken der Geschichte der Protestbewegung der 68er vor, zu dem das Klima der politischen Agitation in den 60er Jahren und ein Panorama der wichtigsten handelnden Personen und Gruppen gehört. Und die Gewaltfrage war immer präsent, so auch in dem eher obskuren „Organisationsreferat“, das Rudi Dutschke – der am 10 April 1968 in Berlin niedergeschossen wurde und am 24. Dezember 1979 an den Spätfolgen seiner Verletzungen starb -im September 1967 im Studentenhaus der Frankfurter Universität vorgetragen hat. Das geheimnisumwitterte Papier konnte nach seiner Veröffentlichung eingeordnet werden, und Kraushaar bezeichnet es als einen der blinden Flecken bei denjenigen, die glaubten, die RAF habe nichts mit der 68er Bewegung zu tun. Vgl. S. 13 ff.

Im Vorwort nennt Wolfgang Kraushaar zwei weitere blinde Flecken der 68er Bewegung. Zum einen ist es die Frage der „Nation“, die auftauchte, als Ende der neunziger Jahre „sich eine ganze Reihe ehemalige(r) 68er als Nationalisten und gar als Neonazis entpuppten“ (S. 17) und zum anderen nach dem Antisemitismus, der am 9. November 1969 bei einem Bombenanschlag auf Teilnehmer einer Gedenkfeier, die an jüdische Opfer erinnerte. (S. 23)

Weitere blinde Flecke nennt Kraushaar in seinem Vorwort: u.a. die Romantik und ihre maßgebliche Rolle „für die damaligen Akteure in fast jeder Hinsicht“, die Entdeckung der Dritten Welt (S. 51-71), die ideologischen Neuorientierungen nach dem Sechs-Tage-Krieg, die „Gewaltaffinität“, die Rolle der Popmusik, die überraschende Rolle einzelner wie Hans Magnus Enzensberger. Viele Themen, die weit über die unmittelbar mit dem 1968 verbundenen Themen hinausgehen und dazu beitragen, 68 in einen größeren Zusammenhang einzubetten.

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Außer Marx als „die zentrale theoretische Autorität“ nennt Kraushaar auch Jean-Jacques Rousseau als Ahnherr der 68er,  wobei es richtig ist, dass der Erzieher seinen Zögling von Fremdsprachen und gar vor Einflüssen der Kultur schützen möchte, aber die Teilhabe an der Gesellschaft, so wie er sie seinem Zögling lehrt, macht aus dem Emile (1762) die Prosafassung des im gleichen Jahr erschienenen Buches Du Contrat social. – „Die Rebellion der Romantiker“ aus der Feder von Marion Gräfin Dönhoff erschien am 5. Januar 1968 in der Zeit und vermittelte den 68ern in Deutschland und legte damit ein Interpretationsmuster vor, dass die Gegner der 68er nur allzugerne aufgriffen. Kraushaar erklärt, dass der Romantizismus der 68er ihnen auch auf der Suche nach einem „politische(n) Realitätsprinzip“ im Wege stand. (vgl. S. 34 f.)

Am 3. Juni 1967 wurde während der Demonstrationen gegen den Schah-Besuch der Student Benno Ohnesorg von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen: der „vielleicht der am besten erforschte Tag in der Geschichte der alten Bundesrepublik“ schreibt Kraushaar, auch wenn der Eindruck bleibt, dass nicht alle Umstände wirklich vollständig aufgeklärt sind. Der Sechstage-Krieg im Juni 1967 war für die bundesdeutsche Linke ein Anlass, einen Kurswechsel gegenüber Israel einzuleiten, den Kraushaar akribisch untersucht und schließlich davor warnt, alle linken Gruppen gleichermaßen des Antizionismus zu verdächtigen.

Zu den Besonderheiten der 68er Bewegung in der Bundesrepublik gehören die Wurzeln in der NS-Vergangenheit, dem Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust und als eines der prägenden Merkmal der Studentenbewegung gelten die Spannungen zwischen Ost und West, und sie Freie Universität Berlin lag an ihrer Nahtstelle und dann wandelte sich das Land, das eigentlich die Freiheit garantieren sollte in eine imperialistische Macht. Es folgt eine Rezension von Götz Aly, Unser Kampf 1968. Ein irritierter Blick zurück, Frankfurt/M.2008, der aufgrund mangelnder Differenzierungen und eine „eindimensionale Rückbeziehung auf den Nationalsozialismus“ es schafft, „das Phänomen ’68‘ auf eine quasi-nationale Ebene“ zu reduzieren und „internationale(…) Zusammenhänge und Faktoren zu ignorieren. (S. 130)

In Deutschland vermischten sich die Proteste der 68er durch mit denen der APO gegen die Große Koalition von 1967 bis 1969. Vgl. S. 13 ff. Zusätzlichen Zündstoff lieferte die Notstandsgesetzgebung.

Kraushaars Darstellung hat das unbestreitbare Verdienst auch eine politische Geschichte der 60er Jahre zu vorzulegen. Er erklärt Fakten und deutete Zusammenhänge, ohne deren Kenntnisse die 68er Bewegung nicht verstanden und eingeordnet werden könnte. Nimmt man mittelbare und unmittelbare Auslöser der Mai-Ereignisse in Paris zusammen und vergleicht sie mit der Entwicklung in Deutschland, so werden Unterschiede vor allem in der Art der Radikalität, wie Kritik am Staat geäußert wird deutlich. Wurden in Frankreich revolutionäre Perspektiven im Mai 68 eindeutig von der PCF ausgebremst, so waren es in Deutschland revolutionäre Thesen, die eher nur unter den Studenten Gehör fanden, aber keine recht bedeutende Wirkung entfachen konnte. Zu ihnen gehört auch Die Transformation der Demokratie, ein Buch das > Johannes Agnoli (1925-2003) (Wikipedia) 1967 vorlegte, der sich gegen die parlamentarische Demokratie wendete. Seine Parlamentarismuskritik sei wenig originell, erläutert Kraushaar, stammte sie doch aus „Italiens präfaschistischer Ära“ (S. 154). Im letzten Abschnitt des 2. Kapitels: „Vom tendenziellen Verschwinden der Antisemitismus“ sucht der Autor nach Gründen für diesen „radikalen Wandel“, wobei er en détail zeigt wie der Nahostkonflikt und der US-Imperialismus die Neuorientierung beeinflusst haben.

Im 4. Kapitel steht „Die Ordinarienuniversität im Zeichen der Gesellschaftskritik von 1968“ zusammen mit der Demokratisierung der Hochschulen im Mittelpunkt. Interessanterweise nennt Kraushaar hier auch Condorcet und Wilhelm von Humboldt mit dem Ansatz „der „uneingeschränkten Freiheit des Forschenden“ (S. 198) Er stellt auch das Scheitern der Humboldtschen Idee der Universität fest: „Eine systematische Öffnung der Hochschulen für alle sozialen Schichte… hat sich ganz offensichtlich als eine Illusion erwiesen.“ (S. 207)

Im 4. und 5. Teil geht es um die Mai-Ereignisse 68, von denen der Autor den Pariser Mai als eine ästhetische Revolte bezeichnet: „Die Phantasie an die Macht“, wie Sartre im Interview mit Daniel Cohn-Bendit am 21. Mai die Ereignisse interpretierte. Die Machtergreifung blieb aber eine Illusion.

Eine wichtige Ergänzung zu vielen anderen Darstellungen bietet Kraushaar mit dem Kapitel „Wie subversiv war der Sound der Sixties?“ (S. 290-336) an. Eine Darstellung, die man in dieser Ausführlichkeit lange suchen kann.

Im letzte Kapitel geht es noch um „… einige Probleme“. Zur Sprache kommen Walter Benjamin und der Ausnahmezustand und die Debatten um Cohn-Bendits Vergangenheit, zu der er am 15. April 2018 von Claus Leggewie > Vom Mythos zum Ereignis (1/2)Was aus dem Mai 1968 für heute folgt Im Deutschlandfunk befragt wurde; bsd. hier: > Vom Mythos zum Ereignis (2/2)Was aus dem Mai 1968 für heute folgt

Schließlich gibt es noch ein Echo auf die Mai-Ereignisse in den Medien: S. 386 ff.

Kraushaar, Wolfgang
> Die 68er–Bewegung. Eine illustrierte Chronik 1960 – 1970, Stuttgart 2018
Erscheinungstermin 22.09.2018

Die Mai-Ereignisse verliefen in allen betroffenen Ländern mit großen Unterschieden. Dort wo der Schulterschluss zwischen Arbeitern und Intellektuellen zunächst funktionierte wie in Frankreich, kam das Regime in wirkliche Gefahr, die vielleicht sogar von der Regierung selbst überschätzt wurde. Das abrupte Ende des Mais in Frankreich, das General de Gaulle am 30. Mai mit seiner Radioansprache verkündet, zeigt wie sehr sich die Wochen in Paris von denen in anderen Ländern unterschieden haben. Die auch für Paris längerfristigen Gründe des Mai hatten z. B. in Deutschland ein ungleich größeres Gewicht, z, die Bewertung einzelner Personen, Rudi Dutschke, Hans Magnus Enzensberger, das Attentat auf Benno Ohnesorg hatten ein vergleichsweisen größeren Nachhall als in Frankreich, wo es um die Protagonistenbald relativ still wurde.

Was bleibt? Von dem Aufbruch hin zu neuen Gesellschaftsformen und zu einer tiefgreifenden Reform der Hochschulen ist nicht viel geblieben. Der Bologna-Prozess, der Unvergleichbares, in Grunde genommen die europäische(n) Kulture(n) durch Zahlen und ECTS-Punkte vergleichbar machen will, hat zu einer überbordenden Bürokratie in den Universitäten geführt, die überall zu Lasten der Studenten, der Lehre überhaupt und ihrer Verbindung mit der freien Forschung geht > Wolf Wagner, Tatort Universität.Vom Versagen deutscher Hochschulen und ihrer Rettung -. 9. März 2010. Dennoch hat der Mai 1968 alles in Bewegung gesetzt und zur Öffnung der Gesellschaften ganz erheblich beigetragen. In Frankreich sollte es bis zum Sieg der Sozialisten unter François Mitterrand (1916-1996) bis 1981 dauern. In Deutschland wurde am 14. Mai 1993 die Partei der Grünen gegründet.

Wolfgang Kraushaar
> Die blinden Flecken der 68er Bewegung
1. Aufl. 2018, ca. 528 Seiten,
gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98141-4

Bibliographie

> Ce jour-là en 68 – Libération

Ingo Kolboom, > Das Jahr, das Frankreich veränderte: Der französische Mai ’68. In Erinnerung an Lothar Baier (1942-2005) – Bundeszentrale für politische Bildung

> Chronologie de Mai 1968 – Fondation Charles de Gaulle

Ulrich Lappenküper, > Der Mai 1968 in Paris : Eine Generation wird erwachsen – FAZ 13.3.2018

> Mai ’68: Die Plakate der Revolte – ARTE

> 415 affiches de mai-juin 68

> Chronologie de Mai 1968 – Fondation Charles de Gaulle