Lesebericht: Jon Ronson, In Shitgewittern. Wie wir uns das Leben zur Hölle machen

Der Buch- und Medienblog bringt Ronsons Warnungen auf den Punkt: „Was vor einigen Jahren abgeschafft wurde scheint eine Renaissance zu erfahren: Der Pranger.“ in: Lesebericht zu “ In Shitgewittern“ von Jon Ronson – Veröffentlicht von Oliver W. Steinhäuser am 9.12.2016.


ronson-shitgewitternMan kennt Sartres Satz aus seinem Theaterstück: Geschlossene Gesellschaft (1944): „Die Hölle, das sind die anderen,“ den die kollektive Intelligenz auch im Artikel in der Wikipedia über dieses Theaterstück > Geschlossene Gesellschaft zitiert. Das ist einer der meist zitierten Sätze von Sartre. Und immer aus dem Zusammenhang gerissen. Er wird gerne so zitiert, um zu erklären, dass Sartre gesagt habe, die Anderen seien die Hölle, was von vielen gerne wortwörtlich verstanden wird, die Anderen sei eben immer die Hölle. So einfach ist das aber nicht. Mehrmals hat Sartre dieses Zitat zurechtgerückt, einmal im > Interview mit Jaques Chancel, wo Sartre lapidar feststellt, der Satz ist aus dem Zusammenhang gerissen, und dann auch der „Préface parlée“, in: Sartre, Théâtre complet, hrsg. von M. Contat, Paris 2005, p. 137. Selbst in der Hölle, so erklärt Sartre, selbst in dieser Beziehung zu den Anderen ist man immer frei, dort herauszukommen. „Wie auch immer der infernale Kreis beschaffen ist, in dem wir leben, ich glaube, wir sind immer frei, aus ihm auszubrechen. Und wenn die Leute das nicht machen, so tun sie das auch aus freien Stücken. So bleiben sie freiwillig in der Hölle.“ (ibid.) Es gibt Situationen, sagte Sartre zu Chancel, in denen man sich die Anderen zur Hölle machen kann, das muss aber nicht sein: > Huis clos / Geschlossene Gesellschaft – www.france-blog.info. An diesen Ausspruch von Sartre erinnert der Untertitel Wie wir uns das Leben zur Hölle machen des Buches Jon Ronson, > In Shitgewittern, das gerade bei TROPEN erschienen ist.

Soziale Netzwerke sind überhaupt nicht so sozial, wie man es sich wünschen würden. > Wie sozial sind soziale Netzwerke? www.stuttgart-fotos.de. Haben wir die Scham schon vergessen? Den Respekt vor dem Anderen? Irgendeine dumme Bemerkung auf einer FB-Seite, oder einige unüberlegte gezwitscherte Wörter können einen Sturm im Internet entfachen, Politikerkarrieren beenden auch befördern, egal wie, man kann zusehen, wie sich die Tweets gegenseitig hochschaukeln, und manchmal so dass darüber die Sache vergessen wird, dann steht nur noch der Autor der wenigen Worte selber in der Mitte der Zielscheibe. Früher wurde vielleicht besser recherchiert, geprüft und die Quellen wurden verifiziert, heute wird weniger geschrieben, mehr gepostet, früher wurde für oft für bestimmte Leser geschrieben, immer das Visier aufgeklappt, heute schreibt die schweigende kollektive Intelligenz ihre Artikel in Wikipedia, Unbekannte mit Decknamen nehmen es sich heraus, Einträge Anderer zu korrigieren oder zu löschen und die Zeitungen lassen ihre Artikel von obskuren Personen mit Pseudonymen kommentieren. Da wird heftig gestritten, beleidigt, gelobt, verrissen, immer das Visier zugeklappt. Man will sich ja nicht selbst einbringen, man will dem Anderen nur schaden. Die selbst ernannten Moralapostel sind ständig im Internet präsent, um Fehler der Anderen aufzudecken, ohne daran zu denken, dass jede Rezension immer auch den Horizont des Rezensenten aufdeckt. Und dennoch, sie erscheinen blitzschnell wie Guerilla-Kämpfer, löschen einen Eintrag, oder posten eine Schmähung, zeigen mit dem digitalen Finger auf Entgleisungen, vermeiden aber einen öffentlichen Diskurs, sondern schlagen digital zu, um gleich darauf wieder im digitalen Nirwana zu verschwinden. Nur keine Verantwortung übernehmen, aber den Anderen möglichst schädigen, ihn am Nasenring durch die Manege zu ziehen, sich selber aber bloß nicht zu zeigen. Ob es Shitstorms geben würde, wenn die Anonymität im Internet nicht möglich wäre?

Ronson erzählt haarsträubende Geschichte aus der digital-sozialen Welt und zeigt, wie man sich dagegen (nicht) wehren kann. Allerdings funktioniert das nur, wenn man sich in die mehr oder weniger sozialen Netzwerke hineinziehen lässt. Muss man das heute? Man darf die Vermutung äußern, dass die Zeit, die man für die Bedienung eines sozialen Netzwerks wie FB, Twitter o. ä. aufwendet, zu 40 Prozent in die Bedienung seiner Funktionen fließt, 30 oder 40 Prozent des Zeitanteils wird damit vergeudet, unsinnige Meldungen und viel Werbung z. K. zu nehmen. 20 Prozent fließt in die Pflege und in den Gewinn der Follower. Bleiben noch 10 Prozent Gewinn oder gar nichts für die eigentliche Kommunikation. Aber wer spricht schon über unsere Tweets oder Postings in FB? Das macht man nur, wenn man selber irgendeinen Gewinn daraus zu ziehen glaubt. Richtig große Zugriffszahlen bescheren nur die Skandale, die genau die vorgegebenen Funktionen oder Wege der Netzwerke respektieren. Das würde bedeuten, die Netzwerke generieren die Shitstorms? Würden sie über Zeitungen verbreitet, ohne in die Funktionalitäten wie Retweet, Likes etc. eingebunden sein, könnte man sich mit ihrem Inhalt beschäftigen, so aber pushen die Funktionen den Skandal, allein um Aufmerksamkeit die digitale Währung der Betreiber der Netzwerke, zu erheischen, je mehr Aufmerksamkeit, umsomehr Werbung, umso besser rollt der Rubel. Die Inhalte spielen keine Rolle mehr, sie werden nur selektiv zum Anstoß benutzt, der Shitstorm nährt sich aus den Funktionen des Netzwerks und bedient sich der Neugier der Follower.

Ronsons Geschichte erklärt den Mechanismus, wie die schweigende Mehrheit, die unsichtbare selbsternannte kollektive Intelligenz eine Stimme beansprucht. Sie meldet sich aus dem digitalen Nirwana, verkündet Moral , ist aber nicht fassbar, hat keine Verantwortung und kann nicht nach ihr befragt werden: „Es war, als seien wir Soldaten in einem Krieg gegen die Verfehlungen anderer Menschen, und mit einmal waren die Kampfhandlungen eskaliert.“ (S. 99)

Kapitel 5 beschäftigt sich mit „Massenhysterie“ und zitiert Le Bon (1841-1939), Die Psychologie der Massen (1895), in dem er die Stellung des Individuums in der Masse analysiert. Ob man von seinen Überlegungen zur Rasse absehen kann, um Anregungen aus diesem Buch für ein Verständnis der heutigen so sehr digital geprägten Internet-Massen zu gewinnen?

Viele der Geschichten Ronson zeugen wie die Autoren der Bemerkungen ganz unversehen (Hank, S. 120 ff) in den Shitstorm heineingezogen werden, durch Dummheit, aber auch durch eine falsche Bedienung der Funktionen: Lindsey, S: 215 ff. Sie posten Informationen, die roh von den Anderen gelesen werden, die richtige Konnotation wird nicht verstanden, die Info wird ein bisschen gedreht und schon kann der anonyme Sturm an zu blasen fangen. Was hilft es einem Politiker dann noch nachzuschieben, er sei falsch verstanden worden, so eine Bemerkung erhöht nur die Drehzahl des Sturmes.

ronson-shitgewitternJon Ronson
> In Shitgewittern
Wie wir uns das Leben zur Hölle machen
Aus dem Englischen von Johann Christoph Maass (Orig.: So You’ve Been Publicly Shamed)
1. Aufl. 2016, 330 Seiten, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-608-50235-0