Lesebericht: Ap Dijksterhuis, Das kluge Unbewusste

Mit dem Frühjahrsprogramm bin ich immer noch nicht durch. Der Lesebericht über Zerbrechliche Dinge von Neil Gaiman wartet noch darauf, geschrieben zu werden. > Die geheime Geschichte Moskaus von Ekaterina Sedia liegt auch noch auf dem Stapel. > Zur Anatomie der Angst von Egon Fabian hat Michael Zöllner schon etwas gesagt. Aber das Buch liegt noch oben auf. Und dann noch die Basis dieses Stapels: > Frankreich, Bd. 1 Raum und Geschichte, Bd. 2 Die Menschen und die Dinge, Bd. 3 Die Dinge und die Menschen, die muss auch noch drankommen. Und Robert Spaemanns > Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I wird hier als Lesebericht nicht fehlen dürfen. Warum plötzlich diese Eile? Ganz einfach: Das erste Paket mit zwei Leseexemplaren aus dem Herbstprogramm ist am letzten Freitag schon angekommen.

Ich kann übrigens gar nicht verstehen, wieso unsere Mitmenschen so auf den neuen PC abfahren, der wie eine Glasscheibe aussieht. Man kann damit aseptisch in einem Buch blättern, ohne Eselsohren zu hinterlassen, ohne sofort zu sehen, wie viele Seiten Lesevergnügen es noch gibt, ohne ein Gefühl beim Ansehen des Buchblocks zu entwickeln, wo das wichtige Stichwort ist. Alle reiben sich die Augen und fragen sich, wird man mehr oder weniger mit der neuen Glasscheibe lesen? Wie können wir durch die neuen Geräte in jeder Hinsicht manipuliert werden, ohne dass wir es merken? Womit wir bei dem Buch angekommen sind, dem dieser Lesebericht gewidmet ist. Wohlgemerkt, das hier ist keine > Rezension, die veröffentliche woanders; hier geht es darum zu zeigen, was man aus einem Buch machen machen. Es sind auch keine Werbetexte, die überlasse ich meinen Kollegen von > Klett-Cotta.

Ap Dijksterhuis ist Professor für Sozialpsychologie an der Radbound Universität Nijmwegen in Holland. Wie kommen Entscheidungen zustande? Lesen sie dieses Buch, und Sie können einige ihrer Ansichten zu diesem Thema revidieren. Was hat Horst Köhler dazu bewogen, nach der Kritik an seinem letzten Interview sein Amt einfach aufzugeben? Das kann man nicht recht nachvollziehen, meinen die einen, andere sind erstaunt, ja verärgert, und dann kommt immer gleich der gebetsmühlenartige Zusatz, man muss dieser Entscheidung Respekt zollen. Was hat Köhler zu dieser Entscheidung veranlasst? War das ein augenblicklicher Entschluss oder ein lange gereifter, der nur eine günstige Gelegenheit zum Absprung suchte? Stimmt es, dass auch das Gehirn eines Bundespräsidenten „keine erkennbare Führung vorweisen kann“, (S. 29) so wie Dijksterhuis dies in Bezug auf die Denkmaschinen der Normalbürger behauptet, wenn es darum geht, unsere Entscheidungen und Beweggründe zu erläutern ? Das Bewusstsein ist seriell, so fährt er fort. Einparken oder unterhalten, beides zusammen geht nicht, so seid Ihr Männer, erklärte mir meine Tochter. Und dann das Kapitel über das Unbewusste. Ich lese ja gerne und lasse mich auch darauf ein, obwohl > Sartre erklärte, das Bewusstsein ist immer ein Bewusstsein von etwas und damit gibt es für ihn kein Unbewusstes. Mangelnde Beschäftigung mit dem Thema kann man Sartre nicht vorwerfen, immerhin hat er das Drehbuch zum Film von Jean Huston über Sigmund Freud verfasst. Man kann aber auch Dijksterhuis kaum widersprechen, wenn er u.a. erklärt, dass die Kapazität unseres Bewusstseins begrenzt ist, und es in unserem Gehirn einfach mehr als nur eben das Bewusste geben muss. Viele mentale Prozesse spielen sich ganz einfach ausserhalb des Bewusstseins ab. Manchmal schwappen sie in das Bewusstsein über, und das nennt man die unwillkürliche Erinnerung so wie bei Proust. Wo kämen auch sonst unsere Einfälle her, die wir als plötzliche Eingebungen feiern?

Ob es stimmt, dass das Bewusstsein nur mit dem Endprodukt der unbewussten Prozesse konfrontiert wird? (S. 53) Das würde die Entscheidung von Horst Köhler verständlicher machen. Gibt es im Gehirn wirklich so eine Rollenverteilung? Dijksterhuis ist davon überzeugt und liefert dafür gute Gründe. Man kann das selbst ausprobieren, wenn man darauf achtet, wieso man selbst bei mancher Unterhaltung plötzlich aufwacht oder zumindest sich erschrickt oder einen Aufmerksamkeitsschub verspürt. Ist man sich dieser Mechanismen bewusst, kommt man schnell in Versuchung, sie ganz wie man so schön sagt, bewusst einzusetzen. Manchmal werden im Unternehmen Informationen nicht weitergegeben, so wie das Unbewusste manchmal vom Unbewussten übergangen wird. Wer hat denn da die Schuld? Oder wer hat die Holschuld?

Gibt es eine unbewusste Wahrnehmung? Das ist doch auch eine Kernfrage für die Kunst. Und Tintoretto spielt damit, wenn er den Blick des Betrachters mittels der Anordnung der Bildelemente präzise steuert, so wie > Sartre das mit dem Vergleich vieler Bilder des Malers eingehend erklärt hat. Dijksterhuis beschreibt die subliminale Wahrnehmung, „also die Wahrnehmung unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Bewusstseins“ (S. 68) und zeigt dessen Folgen für unser Bewusstsein. Nehmen wir also mehr wahr, als wir sofort verstehen? Klar, am nächsten Tag wissen wir immer mehr über etwas, das wir zunächst nicht verstehen. Wählt man bewusst oder unbewusst? Das war schon immer ein Thema für Wahlforscher jeder Couleur. Und dann kommt eine Hauptthese dieses Buches: „Diejenigen, die schnelle Urteile fällen, waren in ihren Urteilen viel konsistenter.“ (S.107) Bewusstes Denken eröffnet uns nicht unbedingt den Zugang zum Unbewussten. Ist also das Bewusstsein doch stärker als das Unbewusste? Zugegeben, jetzt wird es richtig komplex aber auch richtig spannend. Eine Erklärung für Köhlers Abgang liefert das Buch nicht, aber zumindest einen Denkanstoß. Vielleicht war es doch eine spontane Entscheidung, zu der er also doch sehr wohl fähig ist? Die Frage, nach der Qualität von Entscheidungen, ob bewusst oder unbewusst wird im Folgenden unter allen möglichen Aspekten untersucht. Dijksterhuis diskutiert dabei die These, dass das Bewusstsein unser Verhalten nicht steuert und beruft sich auf den amerikanischen Psychologen Daniel Wegner, der meint, dass der freie Willen eine Illusion sei. Auch wenn Dijksterhuis viele Belege und bemerkenswerte Überlegungen liefert, mag mein Bewusstsein, nachdem ich soviel über Sartre geschrieben habe, das kaum nachvollziehen. Aber vielleicht lernt mein Bewusstsein noch was vom Unterbewusstsein?

Ap Dijksterhuis
> Das kluge Unbewusste. Denken mit Gefühl und Intuition
Mit einem Vorwort von Gerhard Roth. Aus dem Niederländischen von Hildegard Höhr
1. Aufl. 2010, 252 S., gebunden mit Schutzumschlag, mit 20 Abbildungen
ISBN: 978-3-608-94560-7