Die Vielfalt bei Klett-Cotta erstaunt mich immer wieder, und sie treibt diesen Blog am besten an. Kaum war ich mit der Lektüre des Romans von Jonathan Littell fertig, kam die Biographie über > Arno Gruen. Jenseits des Wahnsinns der Normalität dran. Sie lag auf meinem Bücherlesestapel ganz oben – danach kommt das Buch von Terence Des Pres, Der Überlebende – Anatomie der Todeslager dran. Die Biographie über Gruen von Monika Schiffer paßt zu meinem letzten Filmerlebnis. Während der Tagung in den USA habe ich den Film von John Huston über Sigmund Freud gesehen, für den Sartre das Drehbuch (Scénario Freud) verfaßt hatte, von dem allerdings nur ca. ein Drittel realisiert wurde. Soviel zur psychologischen Vorgeschichte dieses Beitrags.
Die Biographie über Gruen ist so recht ein Buch, dessen Lektüre einen packt. 13 Jahre alt ist Arno Gruen und geht auf die Theodor-Herzl-Schule in Berlin, wo > Paula Fürst unterrichtet, als sein Vater James Gruen die Überzeugung gewinnt, die schnelle Ausreise der Familie dürfe nicht länger aufgeschoben werden. In jedem Kapitel stehen am Anfang ein, zwei Seiten, auf denen die Autorin kürzliche Begegnungen mit Gruen schildert, sozusagen, ein Rückblick auf die Jahre, die dann in dem Kapitel beschrieben werden. Die Schulzeit in Brooklyn, die Eingewöhnung in das Viertel, die Jahre in der Erasmus Highschool, das wirtschaftliche Auf und Ab des Vaters, das Studium am New York City College und schließlich machen ihn die ersten Veranstaltungen bei Isidor Chein über Abnormalitäten mit der Psychologie bekannt. Dann folgt der die Militärzeit, die ihm die ersten Erfahrungen als Psychologe auf Crape Cod bei der Betreuung von Kriegsverletzten gewährt. Dann folgen weitere Studienjahre und eine ersten Anstellung 1948 am Bellevue Psychatric Hospital in New York. Er arbeitet an der Entwicklung eines Kinder-Intelligenztests mit. Er formuliert seinen eigenen psychologischen Ansatz, mit der er sich, so Monika Schiffer, von dem „pessimistischen Menschenbild Freud’scher Prägung“ (S. 104) entfernt und sich gegen die Auffassung, Lernprozesse vollziehen sich durch Repression wendet.
Schiffer zitiert einen Satz Gruens: „Unsere Kultur sieht Entwicklung in Zusammenhang mit einem unterbrechenden Eingriff in natürliche Prozesse.“ (S. 105). In Freiheit entwickeln Kinder ein Bewußtsein der Kooperation und Erweiterung, das die immer neue Aufnahme weiterer Lebenserfahrungen einschließt, fügt er hinzu. Das zielt auf die modernen Theorien des Konstruktivismus und auf die Autonomie des Menschen. Kleinschrittigkeit und die Angst, Schüler nicht zu überfordern, zielen hingegen auf Gängelung und Entmündigung. „Sie haben heute schon wieder mehr als 10 neue Vokabeln eingeführt…“, lautete der strenge Vorwurf in der Referendarzeit. – Mein Dilemma ist diese Blogtextsorte, kurz, knapp, kein Buchklappentext, sondern ein Erlebnistext, und der könnte nach der Lektüre dieses Buches noch viel länger werden. – Schiffers Biographie berichtet über die wichtigen Begegnungen, die Gruen geprägt haben und über das, was er aus diesen Anregungen für seine Arbeit als Psychologe gemacht hat. In > Der Fremde in uns, wo es um „‚falsche‘ Elternliebe und mißratene Autonomieentwicklung geht, kommt er wieder auf sein eigentliches Thema zurück: „Das Gute ist nicht einfach Ergebnis ethischer Werte, die triebhafte Kräfte überlagern,“ schreibt er und erklärt, daß Moralität aus inneren Quellen entsteht und der Aggression und Gewalt überlegen sind: „Ein Selbst, das in Autonomie verankert ist, kann nicht mit der Zerstörung leben,“ fügt er hinzu. Damit zieht Gruen, so Monika Schiffer die Moralphilosophie ein Frage, die allgemeingültige Normen und Werte als die Voraussetzung moralischen Handelns vermitteln will. (S. 123) Bei solchen Zeilen denke ich an die Grundschulempfehlung, mit der heute Lehrer Kindern vorschreiben, ob sie auf die Hauptschule oder aufs Gymnasium gehen dürfen. – Gruen geht es um die Empathie (S. 163), die die Gefühle anderer verstehen will. Seine neuesten Arbeiten drehen sich wieder um die Menschlichkeit und die Frage, was ist der Mensch? Die Hirnforschung nimmt einen größeren Teil seiner Arbeit ein. Er untersucht die Teilung des Gehirns in zwei Hälften und unterscheidet einen analytischen und einen emotionalen Teil, die dem Bewußtsein untergeordnet wird.
Gruens Thesen provozieren und machen nachdenklich. Die Biographie, die Gruens Einsatz gegen jede Form der Fremdbestimmung eingehend darlegt, macht Lust darauf, seine Bücher zu lesen.
Monika Schiffer
> Arno Gruen. Jenseits des Wahnsinns der Normalität – Biografie
ca. 50 sw-Abbildungen
180 S., ISBN: 978-3-608-94449-5
> Alle Bücher von Arno Gruen bei Klett-Cotta
Foto: © Heiner Wittmann, 16. April 2002 im > Literaturhaus Stuttgart