Der Lesebericht:
Alex Rühle, Ohne Netz

Vom 1. Dezember 2009 bis zum 31. Mai 2010 war > Alex Rühle offline. Kein Internet, kein Blackberry, keine Mails, kein digitales Leben mehr. Rühle stieg für ein halbes Jahr einfach aus, und seine Kollegen der Zeitungsredaktion mussten unweigerlich mitmachen. Fax, Telefon, Brief: Willkommen in der analogen Welt. Nun liegt sein Tagebuch vor: > Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline.

Den Grund für seinen zeitweisen Ausstieg aus dem Netz fasst er in einem Satz zusammen: „Ich habe das Gefühl, dass ich mir darin selbst abhanden komme.“ (S. 19) Jeder kann sich und seine PC-Tätigkeit selbst prüfen: Kaum ein zusammenhängendes Schreiben ist mehr möglich, weil jeder PC sein Eigenleben führt, das er uns immer wieder aufdrücken will, hier ein Update, dort ein automatischer Download. Ein Programm meldet, dass es im Hintergrund irgendwas tue, dann trudelt wieder eine E-Mail ein. Rühle war sich darüber klar geworden, dass er sich manchmal am Tag nicht mehr daran erinnern konnte, was er noch just zwei Minuten vorher getan hatte oder tun wollte. Übertreibt er? „… das Internet grillt unser Hirn zu Neutronenbrei, in wenigen Jahren werden wir eine Gesellschaft aus Barbaren und funktionalen Analphabeten sein.“ (ebd.)

Rühles Ausstieg ist auch ein Selbstversuch, der mit der bangen Frage, ob er nach dem Netz süchtig sei, zusammenhängt. Kaum jemand der einen beruflichen E-Mail-Account hat, beschränkt sich wie früher beim Briefkastenleeren auf einen bestimmten Moment am Tag, um seine Elektrobriefkasten zu leeren. Nur eben mal die Mails abchecken, geht auch ganz schnell. Und Mails als Kommunikationsform dulden keinen Aufschub. Das Warten auf die Mails vermittelt immer auch den Eindruck, der Absender warte genauso gespannt auf eine Antwort, also eben mal schnell eine Antwort tippen, die man nie in so kurzer Form in einem Brief oder auf einer Postkarte schreiben würde. Der höfliche verbindliche Satz am Ende der Mitteilung weicht oft einem „Gruß jo“. Das elektronische Leben hat die Herrschaft in unseren Büros übernommen: „Richtige Pausen macht keiner,“ schreibt Rühle, allenfalls schiebt man sich ein „digitales Bounty“ (S. 53) in Form eines YouTube-Streifens rein.

Die Orientierung im Netz ist nur was für „zerstreute Texthopper“, die keinen langen Texte vertragen, und die sich jede Konzentration durchs Netz nehmen lassen. So ist es, denn selbst Produzenten rechnen damit, dass lange Texte nicht gelesen werden, und sie zerkleinern alles zu digitalen kleinen Häppchen, was ihnen das Fernsehen bereits schon lange vorgemacht hat. „Aufmerksamkeitszerstäubung“ (S. 75) nennt Rühle die Zerstörung der Konzentration. Er hat Recht und sein Insistieren auf den durch das Surfen erlittenen Verlust von Zusammenhängen ist ein Hinweis auf die perfekte Kunst der Manipulation durch Internetwerbung jeder Art. Der Kopf wird durch die vielen bunten Bildchen und das Übermaß an Informationen auf einer Seite, die man gar nicht aufgerufen hat, die sich einem aber immer aufdrängen, zum Überdruss gefüllt. Auch wenn die Internetwerbung gar nicht mehr wahrgenommen wird, ist doch der Blickkontakt entscheidend, und er reicht, um eine Marke zu positionieren.

Rühle notiert in seinem Tagebuch die Erfahrungen seines Selbstversuches, seine Einsichten und seine Erfahrungen vom Rückkehr in die analoge Welt. Er hat jetzt endlich einmal Zeit, um über die Rundumdieuhr-Erreichbarkeit nachzudenken. Früher schlossen Fabriken abends. Heute dehnt das Netz die Arbeitszeit auf den ganzen Tag aus. Früher brachte einem ein Kollege einen interessanten Zeitungsausschnitt, noch früher kam er persönlich mit einer seiner eigenen guten Idee, heute kommt oft nur ein Linktipp per Mail. Rühle ist sich sicher, „die Nonstopinformiertheit hat mich regelrecht vergiftet,“ (S.111) Und dann zitiert er die Studie der University of California, derzufolge ein Büroarbeiter sich nur 11 Minuten der derselben Aufgabe widmen könne, bevor der PC wieder irgendwas für ihn macht, oder ihm ein Mail ankündigt. Und die Probanden brauchten wieder 25 Minuten, um zu ihrer Tätigkeit zurückzukehren.

Da ist was dran, von so vielen Seiten betrachtet Rühle seine neue Konzentrationskraft, wenn er morgens an seinem Buch schreibt. Seine wiedergewonnen Freiheit will er aber doch bald wieder aufgeben, weil er stets und ständig an die Segnungen des Netzes denkt. Ach könnte ich doch eben mal… zweimal wird auch schwach, schämt sich ganz gehörig und versucht jedes Mal ganz schuldbewusst, sich mit einem dringenden Notfall herauszureden.

Rühles Buch korrigiert behutsam aber auf überzeugende Weise unser digitales Leben. Wie wenig kriegt der digitale Surfer bei einer Sitzung von der großen weiten digitalen Welt überhaupt mit. Online vermittelt den Eindruck, dabei zu sein. Web 2.0 verspricht die Partizipation, während die sozialen Netzwerke nur dafür geeignet sind, die sozialen Bezüge aufzulösen statt sie zu intensivieren: Wer hat in seinem Internet-Netzwerk mehr Freunde als im realen Leben? Die Qualität des sozialen Zusammenseins ändert sich durch die digitale Herausforderung. Mitmachen heißt bereit zu sein, sich einem vorgegebenen Format anzupassen. Alles was man dort macht, wird entspricht der Art und Weise, wie Rühle das Mailen (S. 189) beschreibt, es wird „unverbindlich“ (ebd.). Es ist die „Verbiederung“, von der Günther Anders so treffend spricht. (1)

Das Netz ist ein praktisches Hilfsmittel und Rühle ist es gelungen, den Kern und Unsinn des Internetmonadentums unmissverständlich zu identifizieren: Wer sich den Ergebnissen einer bekannten Suchmaschinen anvertraut, ist verloren. Er findet irgendwas und hat schon vergessen, was er suchen wollte, weil er irgendwas gefunden hat. (vgl. S. 202). Es ist gar kein Informationsüberfluss, wie viele immer wieder behauten; das Internet ist nichts anderes als eine große Bibliothek, in der die Betreiber vergessen haben, ihre Inhalte zu ordnen und es nun obskuren Algorithmen überlassen müssen, die Bücher nach dem Grad der Aufmerksamkeit zu ordnen, die diese oder jene, ganz egal wer, ihnen ganz zufällig hat zukommen lassen. Jedes Schlagwortverzeichnis einer Bibliothek hilft bei einer Hauptseminararbeit mehr als das Netz. Zumindest war das früher so, wo man die liebevoll beschrifteten Karteikärtchen durchblättern konnte. Heute werden die Schlagwortverzeichnisse automatisch generiert…

< Ohne Netz gibt es auch als > Hörbuch.

An keiner Stelle erklärt Rühle überzeugend, wieso er ins Netz zurückkehren möchte. Bleibt da nur seine Sucht und die 5644 ungelesenen Mails, die dort auf ihn warten? Und da ist auch sein Geständnis, sich in einem Hotelfoyer gleich viermal auf den Hotel-PC nach seinen Mails geguckt zu haben. Aber in seinem Tagebuch der Internetabstinenz entwickelt er präzise und eindeutig die digitalen Gefahren des Informationschaos, das überall auf uns lauert, das uns knechtet, das uns mal hier und da mal dies und das finden lässt. Auch noch als Tagebuch wirkt sein Buch wie eine Untersuchung, die systematisch die analogen Höhen den digitalen Niederungen gegenüberstellt. Nicht nur die digitale Praxis auch das analoge Himmelreich kann dazu beitragen, die Grundlagen einer modernen Medienkompetenz zu definieren. Rühle erwähnt in seinem Tagebuch keinmal, wieso und ob ihm das Netz überhaupt fehle. Doch, er vermisst die Bequemlichkeit der Recherche; er weiß aber auch, dass die im Netz zufällig gefundenen Infos von irgendjemandem stammen, und man spürt, dass die Bibliotheksarbeit der analogen Welt etwas vom zielbestimmten Finden hat. Nur mit dem Vergleich von traditioneller Bibliotheksarbeit und moderner Recherche, das im Netz immer nur ein Stöbern ist, lernen Schüler und Studenten die Grundlagen einer modernen Medienlehre.

Jeder kennt um sich herum viele, die ständig ihren Blackberry zücken, viele die nach Mitternacht noch putzmunter mailen, die die oben stehenden Suchbegriffe für die Wahrheit halten, die auf SEO mehr schwören als auf guten (neudeutsch) Content. Sie alle würden verwundert gucken, wenn Sie ihnen Alex Rühles > Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline schenken würden. Offline ist ein schrecklicher Gedanke, obwohl doch ein handgeschriebener Brief mit Füller der schnell getippten Mail so unendlich weit überlegen ist. Offline ist heute die Steigerungsform von Urlaub.

> Alex Rühle auf www.facebook.com/offlinegehen

> Blättern im Buch

> Alex Rühle
> Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline
Auflage: 1. Aufl. 2010
220 Seiten
ISBN: 978-3-608-94617-8

(1) Günther Anders. Die Antiquiertheit des Menschen. 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industrielllen Revolution, München 7/1987, S. 116-120.

Veranstaltungen von Alex Rühle:

München
Premiere

27.07. 2010 20:00
Alex Rühle stellt sein Buch Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline. vor.
Die Veranstaltung wird von Dirk von Geelen moderiert.
Literaturhaus München, Salvatorplatz 1, 80333 München.

Würzburg

Lesung
30.09. 2010 20:00
Alex Rühle stellt sein Buch Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline. vor.
Stadtbücherei Würzburg, Haus zum Falken, Marktplatz 9, 97070 Würzburg.

Stuttgart
Buchvorstellung
19.11. 2010 20:15
Alex Rühle stellt sein Buch vor: „Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline.“ Eine Veranstaltung des Klett-Cotta Verlags und des Buchhandelsverbandes Baden-Württemberg im Rahmen der Stuttgarter Buchwochen. Haus der Wirtschaft, Willi-Bleicher-Straße 19, 70174 Stuttgart