Türkischer Nationalismus und die Krise
Die Kemalisten sind zwar weiterhin auf „Europa“ hin orientiert, es ist jedoch jenes Europa der zwanziger und dreißiger Jahre, das Atatürk vor Augen hatte: Staaten, in denen der Nationalismus teilweise als sehr intolerante Ideologie wirkte und eine demokratische Vielfalt nicht denselben Stellenwert wie heute besaß. Die kemalistische Elite von heute tut sich daher schwer, die Transformation Europas seit den fünfziger Jahren hin zu mehr Pluralismus und Demokratie zu verstehen. So kommt es, daß die orthodoxen Anhänger Atatürks immer mehr zu einem Europa auf Distanz rücken, das ihren Vorstellungen nicht entspricht.
Der türkische Nationalismus mit all seinen Auswüchsen – den schrecklichen Massakern an ethnischen Minderheiten – hat seine Wurzeln nicht im Islam, sondern ausschließlich in säkular-nationalistischen Ideologien Europas. Die Intoleranz, die die Türken seit Ende des 19.Jahrhunderts gegen griechische und armenische Christen entwickelten, hat demnach nichts mit „islamischem Fanatismus“ gegen „Ungläubige“ zu tun (denn es gibt ja eine koranisch vorgeschriebene Toleranz gegen Christen und Juden). Vielmehr handelt es sich hier um eine nationalistische Unduldsamkeit gegen „Feinde des Türkentums“, die teilweise sogar in nahezu rassistische Überheblichkeit mündet. Vollends deutlich wird die areligiös nationalistische Haltung in der Abgrenzung gegen die Kurden, denn die Kurden sind ja Muslime wie die Türken.
Im islamisch orientierten Vielvölkerstaat des Osmanischen Reiches hat es Massaker an ethnischen Minderheiten erst mit dem Aufkommen einer nationalistischen Ideologie unter den Jungtürken gegeben.