Lesebericht: Die Türkei – Zerreißprobe zwischen Islam und Nationalismus (III)

Gerhard SchweizerAufstrebende Parteien einer „Islamischen Moderne“

Zu den Paradoxien der letzten drei Jahrzehnte gehört es, daß ausgerechnet „islamisch“ orientierte Politiker mit deutlicher Kritik an den Positionen der Kemalisten heute ideologisch beweglicher und pragmatischer sind als viele der betont säkularen Nationalisten. Zwar gab und gibt es auch in der Türkei radikale Islamisten, die sich mit ihrer Intoleranz und dogmatischen Härte kaum von radikalen Gruppierungen arabischer und iranischer Islamisten unterscheiden, aber sie finden nur bei einer verschwindend kleinen Minderheit der türkischen Bevölkerung Zustimmung. In den Vordergrund schieben sich mehr und mehr Gruppierungen, die sich von den totalitären Vorstellungen einer religiös-politisch durchstrukturierten Gesellschaftsordnung distanzieren und sich ausdrücklich zum „Laizismus“, zur strikten Trennung von Religion und Politik, zur Religion als „Privatsache“ bekennen.
Diese moderat „islamisch“ orientierten Politiker fordern im Unterschied zu den meisten säkularen Nationalisten einen demokratischen Pluralismus nicht nur für religiöse, sondern auch für ethnische Gruppierungen. So kommt es, daß heute die „konservativ islamische“ Partei AKP unter Recep Tayyip Erdogan den Maßstäben einer westlichen Demokratie näher kommt als die maßgebenden Parteien eines strikt säkularen Nationalismus. Nicht die CHP, die Partei Atatürks, plädiert heute nachhaltig für mehr Demokratie und eine Machtbeschränkung des Militärs, sondern die AKP. Nicht die CHP ist heute die entschiedenste treibende Kraft für einen Beitritt zur EU, sondern wiederum die AKP.
Immer mehr wird deutlich, daß die Ideologie des säkularen Nationalismus – die doch aus Europa importiert wurde – mit ihrer Radikalisierung eines intoleranten Türkentums weniger in die „europäische Wertegemeinschaft“ zu integrieren ist als eine reformbereite und pragmatisch bewegliche „islamische“ Bewegung. Andererseits muß auch die politische Praxis des Ministerpräsidenten Erdogan kritisch beobachtet werden. Es ist immer noch eine offene Frage, inwieweit die mit absoluter Mehrheit regierende AKP ihren „Weg nach Europa“ tatsächlich konsequent fortsetzt oder ob sie nicht – wie zuvor die säkularen Nationalisten – eigene Grundsätze unterläuft.