Lesebericht: Die Türkei – Zerreißprobe zwischen Islam und Nationalismus (I)

Gerhard SchweizerVerwestlichung und säkulare Gesellschaft – dies sind über viele Jahrzehnte die Markenzeichen, mit denen sich die Republik Türkei um die Mitgliedschaft in der EU bewirbt. Die Türkei schien bisher geradezu das ideale Vorbild für einen islamisch geprägten Staat zu bilden, in dem ein religiös-politischer Fundamentalismus keine Chance hat. Aber inzwischen gewinnen islamisch geprägte Parteien mit deutlicher Kritik an „Verwestlichung“ beträchtlich an Einfluß. Gerät damit die Türkei in das Fahrwasser eines radikalen antiwestlichen Islamismus, wie er in etlichen arabischen Staaten und im Iran immer explosiver wird?

Der Autor zeigt, daß die Situation viel komplexer ist.

„Türkische Moderne“, eine zunehmend umstrittene Entwicklung

Bei uns im Westen sind die Begriffe „Verwestlichung“ und „Säkularisierung“ durchgehend positiv besetzt – mit dem Ergebnis, daß beide Entwicklungen manchmal allzu undifferenziert als „Fortschritt“ gepriesen werden, ohne negative Begleiterscheinungen ebenfalls zu berücksichtigen. Dagegen werten wir eine religiös geprägte Kultur und erst recht eine „islamisch“ orientierte Politik oft von vornherein pauschal als „rückständig“, ja als „fortschrittsfeindlich“ ab. Aber auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche der Türkei bezogen, passen diese landläufigen Zuordnungen längst nicht mehr.

Die von Atatürk verordnete Revolution der „Verwestlichung“ hat ihren einst revolutionären, zukunftsweisenden Charakter eingebüßt und ist dogmatisch immer unbeweglicher geworden. Die oft auch als „Türkische Moderne“ bezeichnete Bewegung ist, wenn wir sie an unseren westlichen Maßstäben messen, nur eine „halbe Moderne“. Denn ihr fehlt ein wesentliches Element: der Pluralismus. Zwar ist die türkische Gesellschaft faktisch in zahlreiche verschiedene religiöse, ethnische, politische und soziale Gruppierungen aufgespalten, aber dieser Pluralismus ist letztlich nicht politisch gewollt, vielmehr versuchen die Kemalisten bzw. die säkularen Nationalisten seit vielen Jahrzehnten, durch rigorose Verbote die Vielfalt mehr oder weniger zu unterdrücken. Verboten ist bis heute fast jede kulturelle und erst recht jede politische Autonomie von Kurden, Armeniern, Griechen und Arabern zugunsten eines radikalen türkischen Nationalismus. Stark eingeschränkt ist auch die religiöse Vielfalt.