Lesebericht: Die Türkei – Zerreißprobe zwischen Islam und Nationalismus (V)

Gerhard SchweizerWelche Barrieren zu „Europa“ noch abzubauen sind

Weil die Entwicklung zu einer „Türkischen Moderne“ auf halbem Weg stehen geblieben ist und das Ideal einer pluralistischen Demokratie nicht verwirklicht wurde, ist die Situation so schwierig. Die Türkei hat noch immer nicht den Ausgleich zwischen religiöser Tradition und Modernisierung gefunden. Daß es zu einem lebendigen Dialog auf Augenhöhe zwischen den einzelnen Gruppierungen kommt, ist eine unabdingbare Voraussetzung für den Entwicklungsprozeß von einer autoritär „gelenkten Demokratie“ hin zu einer echt liberalen, pluralistischen Demokratie.
Solange solche Probleme nicht gelöst sind, ist ein Beitritt der Türkei zur EU nahezu unmöglich. Es fehlt als Vorbedingung die Angleichung an das europäische – oder genauer gesagt: westeuropäische – Rechtssystem. Nicht der Islam als die „andere“, angeblich „zutiefst fremde“ Religion ist der entscheidende Hinderungsgrund, sondern ein noch nicht ausgereiftes pluralistisches Gesellschaftssystem. Europäische Staaten sind aufgerufen, weiterhin glaubhaft für die Türkei eine Perspektive zu einem EU-Beitritt zu liefern, denn gerade dies kann einen Anreiz bieten, daß die Türkei den Reformprozeß in Richtung Pluralismus beschleunigt.
Ein solcher Schritt hätte Signalwirkung nicht nur für die ohnehin schon 15 Millionen in Europa lebenden Muslime – und die schon 3 Millionen Muslime türkischer Herkunft in Deutschland – sondern auch für die islamische Welt insgesamt. Die Türkei könnte sich zu einem Modellfall dafür entwickeln, daß Islam und westliche Kultur, unter dem Vorzeichen eines kulturellen Pluralismus, vereinbar sind.
Es bleibt allerdings die Frage, ob sich die EU nicht damit überfordert, ein wirtschaftlich so labiles Land wie die Türkei in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Aber diese Frage stellt sich ebenfalls bei vielen Ländern in Osteuropa. Was dagegen die religiös-politischen sowie kulturellen Entwicklungsprozesse der Türkei angeht, besteht – wenn wir im Zeitraum von Jahrzehnten denken – Anlaß zu vorsichtigem Optimismus.